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Donnerstag, 7. Februar 2013

Kritische Masse und gekipptes Biotop


"Force plays a much larger part in the government of the world than it did before 1914, and what is especially alarming, force tends increasingly to fall into the hands of those who are enemies of civilization. The danger is profound and terrible; it cannot be waved aside with easy optimism. The fundamental cause of the trouble is that in the modern world the stupid are cocksure while the intelligent are full of doubt. Even those of the intelligent who believe that they have a nostrum are too individualistic to combine with other intelligent men from whom they differ on minor points."
Bertrand Russell, "The Triumph of Stupidity", in "Mortals and Others: Bertrand Russell's American Essays", 1931-1935 (Routledge, 1998, p. 28)



Tiefes Wasser
Alles hängt mit allem zusammen. Das sollte sich inzwischen in der breiteren Öffentlichkeit herumgesprochen haben. Das Schmelzen des Polareises, das Abbrechen eines Gletschers kann eine Insel im Pazifik absaufen lassen. Die Sahara-Sandstürme sind die Folge der Überweidung in der Sahelzone, das Abholzen des Regenwalds in Borneo heizt das Weltklima auf, was unter anderem zum Auftauen des Permafrostbodens in Sibirien führt, was wiederum Methangase freisetzt, die wiederum die Erdatmosphäre weiter aufheizen. Dynamit- und Schleppnetzfischerei führen zum Zusammenbruch von Fischpopulationen. Das Absinken des Grundwasserspiegels ist die Folge künstlicher Bewässerung.

Warum sollen diese Einsichten aber nur für die Sphäre der Ökologie, der Geologie, des Klimas, der Biotope von Tieren und Pflanzen gelten? Warum ist man nicht in der Lage, diesen schlichten Sachverhalt auf menschliche Lebensverhältnisse, auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu übertragen? Warum wird immer noch monokausal und gegenwartsbefangen gedacht, warum werden Ursachenbündel, langfristige Prozesse, räumliche, kulturelle und generationenübergreifende Muster nicht als solche erkannt, analysiert und gebündelt in Angriff genommen?


Wir kennen das ökonomische Denkmuster, das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Das, was auf dem Markt selten und rar ist, hat einen höheren Preis, ist kostbarer und teurer als das, was allzeit in ausreichenden Mengen verfügbar ist. Das gilt für Rohstoffe und Edelmetalle, für aussterbende Tierarten, für Trinkwasser. Für bestimmte menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen gilt diese Regel nicht.

Das gestörte Gleichgewicht der Ökologie korrespondiert mit der expotentiell gewachsenen Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung, mit einer komplett fragmentierten, segregierten Gesellschaft, ohne jede Spur von kulturellem Zusammenhalt, von überindividuellen Werten. Das gestörte gesellschaftliche Gleichgewicht resultiert aus einer jahrzehntelangen, generationenübergreifenden Negativ-Auslese auf der Ebene sämtlicher gesellschaftlicher Institutionen. Wir sehen das Sündenbocksyndrom in den Familien, in den Schulen, den Betrieben und Unternehmen. Dass die Mitläufer und die Mittelmäßigen, die Herden gehirngewaschener Automaten die Unangepassten und Hochbegabten immer schon gehasst haben, ist bekannt, aber nie war dieser Hass so tief, nie trat er so offen zutage wie heute. Wäre Friedrich Hölderlin in den 80ern oder 90ern Jahrhunderts geboren worden, er hätte kein einziges Gedicht schreiben können, er wäre lebenslanger Transfergeld-Empfänger, und es gäbe heute auch keinen braven Tischlermeister Zimmer, der den alten kranken Dichter 30 Jahre lang versorgt und ihn somit vor dem Dahinvegetieren in einer geschlossenen Anstalt bewahrt hätte.

Der Soziologe Götz Eisenberg bringt den herrschenden Zeitgeist auf den Punkt:
"Die hinter uns liegenden, von der Praxis des Neoliberalismus geprägten eisigen Jahre haben die Menschen selbst eisig werden lassen und ihre Innenwelt in eine Gletscherlandschaft eingefrorener Gefühle verwandelt. Sie können gar nicht anders, als diese Kälte weiterzugeben und auf ihre Umgebung abzustrahlen. Es macht einen nicht zu unterschätzenden Unterschied, ob man in einer Gesellschaft aufwächst und lebt, in der schwachen und nicht oder weniger leistungsfähigen Mitmenschen solidarisch beigesprungen und unter die Arme gegriffen wird, oder in einer, in der sie der Verelendung preisgegeben und als sogenannte Loser zu Objekten von Hohn und Spott werden. Dass „du Opfer“ zu den schlimmsten Beleidigungen zählt, mit denen heutige Jugendliche sich untereinander dissen, wirft ein schlagendes Licht auf die Perversion im Menschenbild, die in den letzten Jahren im Zeichen eines Kults des Winners um sich gegriffen hat."
Ein Biotop, dem zu lange die falschen Nährstoffe zugeführt worden sind, kippt um. Was man in der Biologie vom Gartenteich, vom Naturgewässer kennt, passiert auch einer Gesellschaft. Ersetzen wir einfach mal in den folgenden Texten "Gartenteich" oder "Teich" durch Gesellschaft, "Wasserpflanzen" oder "Algen" durch Karrieristen, Narzissten, Egomanen, Kriecher, Blender und Schaumschläger, Technokraten (der heute auf Entscheiderebene dominierende Persönlichkeitstypus), den "Sauerstoff" durch gerechte Lebenschancen und Bildungsgerechtigkeit. Die "Eutrophierung" wäre demnach Geld, Macht, Status, externe Anreize.
"Umkippen ist die größte Naturkatastrophe, die einem Gartenteich widerfahren kann. Auch wenn der Begriff von der biologischen Definition her bei Gartenteichen aufgrund ihrer Größe nicht korrekt angewendet werden kann, bedeutet er den Tod für fast alle Lebewesen des Teiches. Beim Umkippen wird dem Wasser durch die wuchernde Vermehrung von Wasserpflanzen, meist sind dies Algen, der Sauerstoff entzogen. Sobald die für die Existenz von Tieren und Pflanzen notwendige Mindestmenge Sauerstoff unterschritten wird, "kippt" der Teich "um". Alles Leben stirbt. Umkippen kann allerdings auch durch ein explosionsartiges Wachstum algenfressender Lebewesen hervorgerufen werden: Wenn diese alle Algen gefressen haben, brauchen sie den im Wasser gelösten Sauerstoff bis zum Exitus auf - auch in diesem Fall ist der Teich anschließend tot. (...) Umkippen kann man verhindern. Zunächst sollte man seinen Teich genau beobachten [Anmerkung: Genau beobachten können in der Regel nur Introvertierte]: Wie ist der Zustand des Wassers, verfärbt es sich grünlich, stinkt es, wie geht es den Fischen? Wenn diese Fragen alle negativ beantwortet werden müssen, sollte man sich Sorgen machen." (Zitat aus www.gartencenter.de)
"Der häufigste Auslöser für das Umkippen eines Gewässers ist die Eutrophierung – die verstärkte Anreicherung des Wassers mit Nährstoffen wie Nitraten und Phosphaten. Nun könnte man natürlich denken, dass Nährstoffe eigentlich etwas positives sind – je mehr Nährstoffe, desto mehr Pflanzenwachstum, desto mehr Nahrung für Tiere etc. pp. Solange dabei gewisse Grenzen nicht überschritten werden, ist das auch vollkommen korrekt – wenn aber ein Gewässer mit Nährstoffen „überschwemmt” wird , kann das verheerende Folgen für das biologische Gleichgewicht haben. Zu einer solchen Nährstoffschwemme kommt es beispielsweise dann, wenn Düngemittel aus der industriellen Landwirtschaft über abfließendes Wasser von einem Feld in ein Gewässer gelangen. Auch die Einleitung von Abwässern über eine Kläranlage kann zu einer verstärkten Anreicherung des Wassers mit Nährstoffen führen (Mist ist bekanntlich ein guter Dünger…). Wie man sich vorstellen kann, löst eine Nährstoffschwemme zunächst einmal ein extrem starkes Pflanzenwachstum aus, wobei sich insbesondere Algen stark vermehren. Ist der Nährstoffeintrag (als „Eintrag” bezeichnet man in der Ökologie das Hineingelangen von Stoffen in einen Kreislauf) groß genug, kommt es schon bald zu einer charakteristischen „Algenblüte” – einem dicken Algenteppich, der unter ungünstigen Umständen die gesamte Oberfläche des Sees bedeckt und darin lebende Organismen vom Licht abschneidet.(...) Ist das Gewässer dagegen erst einmal umgekippt, kann es mitunter viele Jahre dauern, bis wieder ein annehmbarer Zustand erreicht wird. Die Zerstörung der natürlichen Mechanismen der Selbstreinigung führt dazu, dass die Wasserqualität sich auch mittelfristig nur langsam bessern wird, zudem ist der vollständige Wegfall vieler Tier- und Pflanzenarten nur sehr schwer rückgängig zu machen." (Zitat aus scienceblogs.de)
Homogene, nach außen abgeschottete, provinziell-nationalistische, nach oben undurchlässige, ungerechte, segregierte Gesellschaften sind wie stehende, gekippte, tote Gewässer, in denen weit über die Hälfte der Bevölkerung keine Luft zum Atmen mehr hat, weil die oberste schmarotzende Schicht das lebensspendende Licht absorbiert. Gekippte Gesellschaften sind die Folge von konsequenter Negativauslese, von wuchernder Verfilzung und Korruption, von Parteienoligarchie und Nepotismus auf allen höheren Machtebenen. Aufgrund der besseren Wachstumsmöglichkeiten für Algen unter sonst gleichen Umweltbedingungen kippen stehende Gewässer mit einer größeren Wahrscheinlichkeit um als Fließgewässer – offene, innovative, durchlässige, egalitäre, emanzipierte, gerechte Gesellschaften, in denen jeder nach seinen Möglichkeiten partizipieren kann und die in gesundem Austausch mit ihrer Umgebung stehen

Die Industriegesellschaften sind bereits gekippt, es stinkt zum Himmel. Die kritische Masse der Dummheit und Borniertheit ist überschritten, aber es liegt nun einmal in der Natur der Sache, nämlich der Dummheit, dass die Protagonisten dieses Dramas die letzten sind, die die Katastrophe überhaupt bemerken. Denn die seltenen und empfindlichen Lebewesen, die unverzichtbaren Frühwarnsysteme einer Gesellschaft - die Sensiblen, Nachdenklichen, Unbequemen - sind ja inzwischen längst zwangsläufig abgedrängt, kalt gestellt, ohne Macht und Einfluss, der Lächerlichkeit preisgegeben, zum Außenseiter stigmatisiert, oder, falls sie zu all ihrem Unglück auch noch alt, krank oder arbeitslos, sprich ökonomisch unproduktiv sein sollten, endgültig zum Abschuss freigegeben worden. Jede Möglichkeit zur Selbstreinigung und Selbstregulierung des gekippten Systems ist damit vernichtet.

Geschlossene Systeme fressen sich über kurz oder lang selber auf. Sie können gar nicht anders. Ohne Korrektiv, ohne stabilisierenden Ausgleich und Austausch, ohne Zufuhr von externen Standpunkten, ohne das Zulassen von immanenter Kritik, von "Nestbeschmutzern", kann es keine Veränderungen, keine notwendigen Anpassungen und Korrekturen geben, reproduzieren sich die blinden Flecken, blüht die geistige Inzucht, der totalitäre Konformitätszwang, die dumpfe Monokultur. Ein stehendes Gewässer verlandet, kippt um und ist tot.

Viele glauben immer noch daran, dass eine Situation, in der für eine ausreichend große Anzahl an Menschen der Leidensdruck zu groß wird, explosionsartig verändert werden kann, durch eine wie auch immer geartete Revolution, nach dem Motto: Druck erzeugt Gegendruck. Wenn die Zustände für eine kritische Masse von Menschen unerträglich werden, schlagen die Unterdrückten, Beraubten, Gedemütigten zurück. Irgendwann, irgendwie. Immer häufiger ist der Wunsch, die Sehnsucht zu hören, dass es jetzt bald mal so richtig knallen müsste. Das hat ja in der Geschichte auch oft genug geklappt. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Hölderlin). Oder: Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist (Victor Hugo). So rettet man sich durch das Bombardement der gegenwärtigen Zumutungen, so macht man sich gegenseitig Mut. Alles reine Illusion, Selbstbetrug. Die Gegenwart zeigt, dass diese Denkmuster keine Gültigkeit mehr haben, insofern ist diese heutige Zeit eine historisch einmalige, noch nie dagewesene.

Weil die Vernunft und die Moral kalt gestellt sind, weil die Psyche degeneriert ist, weil eine Welt, die zumindest aus der Perspektive eines interesselosen Beobachters von psychopathologisch auffällig zu nennenden "Eliten" regiert wird, gar keine Lösungen mehr hervorbringen kann, langfristig gesehen (die Unfähigkeit, langfristig zu denken gehört ja gerade zu diesem betriebsblinden Syndrom) noch nicht einmal Lösungen für ihre eigenen egoistischen Interessen. Das Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders wird weiter dem galoppierenden gesellschaftlichen Zerfall angepasst. Narzissmus, Größenwahn, Opportunismus, Borniertheit, Neid, Missgunst werden zur erwünschten gesellschaftskonformen Verhaltensnorm klassifiziert, demgegenüber Rücksichtnahme, Sensibilität, Differenzierungsvermögen, analytisches Denken, Empathie, Altruismus, kooperatives Handeln, Gerechtigkeitsempfinden zur klinisch behandlungsbedürftigen Krankheit.

In Bezug auf die Weltbevölkerung ist die Grenze bereits überschritten. Die Modellrechnungen, die uns weismachen wollen, dass der Planet noch ausreichend Nahrung und Energie abwirft für 9 oder 20 Milliarden Menschen (und bis wir soweit sind, fällt uns bestimmt noch eine Lösung ein), zeugen von einer unfassbar kruden Holzschnittlogik, die den Menschen wie Faktoren in einer mathematischen Gleichung behandelt oder wie ein Stück Vieh aus der Massentierproduktion. Wer will oder kann denn so leben, auf einer statistisch ausreichenden Fläche und einem statistisch zugemessenen Energie- und Nahrungsverbrauch? In dieser Welt muss jeder heute schon zwangsläufig anderen auf die Füße treten, wenn er seine ureigensten Interessen verfolgt, auch dann, wenn diese anderen Tausende Kilometer weit entfernt leben. Bereits heute ist der Flächen- und Energieverbrauch zu hoch, das Nahrungsmittelangebot zu knapp für Tiere und Menschen, die natürlichen Ressourcen sind weitgehend ausgeschöpft, die Meere überfischt.

Innerhalb dieser Überlebens-Logik ist es unvermeidlich, dass jedes Eigeninteresse automatisch das gleichberechtigte Interesse des anderen verletzt. Konflikte sind also vorprogrammiert. Und genau das spielt sich jeden Tag um uns herum ab. Die Welt ist nun einmal kein Versuchslabor und kein Online Game, wo der Versuch und die Spielrunde jederzeit abgebrochen und resettet werden können. Der peak bei der Weltbevölkerung ist dann überschritten, wenn der Aufwand, den Menschen betreiben müssen, nur um ihre existentielle Grundversorgung sicherzustellen - Wohnung, Versorgung der Kinder, der alten und kranken Angehörigen, Beschaffung von Nahrung, Heizenergie, Wasser -, den größten Anteil ihrer Lebenszeit in Anspruch nimmt, so dass für Bildung, kulturelle Teilhabe und persönliche Entwicklung keine Zeit bleibt. Diesem Zustand des nackten Existenzkampfs sind heute nicht nur die meisten Menschen in Schwellen- und Drittweltländern ausgesetzt, sondern die Verelendung greift auch in den Industrieländern immer weiter um sich. Es gehört zu den größten Lügen des Neoliberalismus, dass die Globalisierung den Wohlstand bis in den letzten Winkel der Welt  trägt. Das Gegenteil ist der Fall. Für einen, der aufsteigt, müssen 10 andere die Klippe herunterfallen.

Ich habe kaum je einen Satz gelesen, der das heutige Dilemma derart auf den Punkt bringt wie das vorangestellte Zitat des britischen Philosophen und Mathematikers Bertrand Russel. Die Ignoranten sind an der Macht, die als Folge ihrer Ignoranz keinerlei Zweifel, geschweige denn Selbstzweifel kennen, während die Klugen eben gerade aufgrund ihrer Klugheit wissen, was sie alles noch nicht wissen, dabei aber zu eigenbrötlerisch, zu individualistisch sind, um mit anderen Klugen zu kooperieren, ein Gegenfeuer anzuzünden. Je mehr Ignoranz, Gefangenheit in der Immanenz, Narzissmus, Hedonismus, Größenwahn, Egozentrik, Gier, Machtstreben, Borniertheit, Bigotterie, religiöser und politischer Fundamentalismus, Nationalismus, Patriotismus, Schwarz-Weiß-Denken, Freund-Feind-Schema, Konkurrenzdenken, Bürokratie, Technokratie, Expertentum und Faktizitätsgläubigkeit überhand nehmen, desto notwendiger wären die Gegenpole Nachdenklichkeit, Selbstreflexion, kritisches Hinterfragen, differenziertes, analytisches und logisches Denken, Fortschritts- und Wachstumsskeptizismus, Rücksichtnahme, Fürsorge, Toleranz, Offenheit, Kooperation, Verantwortung für kommende Generationen, spekulatives, grenzüberschreitendes Denken, Phantasie, Utopie, Normativität, Transzendenz, wahre Liberalität. Aber der Herdentrieb weiß dies zu verhindern - ein selbstverstärkender Prozess, der in den nächsten Jahren erst richtig in Fahrt kommen wird, wenn es darum geht, die letzten Ressourcen zu verteilen: Anbauflächen, Trinkwasser, Energie. Und wenn die letzte Generation, die noch das bürgerliche Wertesystem verinnerlicht hat, weggestorben ist. Es ist kein Zufall, dass viele Mahner und Denker, die heute sich noch trauen, das Wort zu ergreifen, im fortgeschrittenen Alter sind, kurz vor dem Ruhestand oder bereits verrentet oder pensioniert.

Tradierte bürgerliche Werte wie Ehrlichkeit, Fairness, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Mitgefühl, Güte, sind heute in ihr Gegenteil verkehrt, der Lächerlichkeit, dem Hohn und Spott preisgegeben, Untugend, niedere Gesinnung, Boshaftigkeit, Gewalt dagegen werden verherrlicht, bewundert und belohnt. Betrügen und belügen, Selbstverwirklichung und Selbstvermarktung, Egoismus und Narzissmus nach dem Motto "Unterm Strich zähl' ich" (eine großartige Studie von Götz Eisenberg über den Narzissmus als sozialpsychologische Signatur des konsumistischen Zeitalters, magazin-auswege, 15.02.2012), Steuer- und Versicherungsbetrug, Cybermobbing und Stalking ist zum Volkssport geworden. Jedes persönliche Bestreben, "sauber" zu bleiben, sich diesem Sog zu entziehen, wird tagtäglich in den Medien und im sozialen Umfeld korrumpiert und verhöhnt. Die Folgen sind Selbstzensur und Schweigespirale. 

Wir haben die Entwicklung eben einfach nicht mehr in der Hand. Dass es so etwas geben könnte wie einen moralischen Fortschritt, liegt mittlerweile außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens. Die kritische Masse ist bereits erreicht, die Kettenreaktion in Gang gesetzt worden und kann nicht mehr korrigiert werden.

Der systemkonforme Bewohner dieser schönen neuen, gekippten, faulenden und stinkenden Welt ist abhängig von öffentlicher Aufmerksamkeit, von der Bewunderung und dem Beifall anderer, abhängig von dem Gefühl, gebraucht zu werden von den Kindern, der devoten Ehefrau, dem prügelnden, alkoholkranken Ehemann, abhängig von Besitz und noch mehr Besitz und mehr Besitz als alle anderen, abhängig von dem, was die Nachbarn wohl über einen denken, abhängig von dem berauschendem Machtgefühl, das sich einstellt, wenn man Mitarbeiter nach Gusto entlassen kann, Gerichtsurteile kaufen, Regierungsmitglieder bestechen, Börsenkurse manipulieren kann, er ist abhängig von der Zahl seiner Follower und Facebookfreunde.

Es geht hier schon gar nicht mehr um die Frage, ob diese Verhaltensweisen ethisch vertretbar sind oder nicht. Natürlich sind Beifall und Bewunderung etwas Schönes, für jeden von uns. Es kann für einen Chef, eine Chefin eine große Genugtuung bedeuten, einen renitenten Mitarbeiter loszuwerden. Ja, es gibt Leute, die einen Glücksrausch erleben, wenn sie anderen schaden und sie betrügen und dann um die gerechte Strafe herumkommen. Sondern es geht darum, ob man ohne diese Krücken, diese Panzerungen in dieser Welt überhaupt noch überlebensfähig ist, ob man auch ohne permanente Selbstbestätigung durch Besitz und Status mit sich selbst und der Welt im Reinen sein kann. Der reflexhaft vorgebrachte Vorwurf des Neides und der Missgunst ist reine Projektion. Man unterstellt dem anderen die eigene Haltung zu den Mitmenschen, zur Welt. Man selber kennt ja keine andere und kann auch keine konträre Haltung gleichberechtigt neben seiner eigenen gelten lassen, weil das ja wieder die eigene brüchige Identität in Frage stellen könnte.

Es mag in der Kulturgeschichte Phasen gegeben haben, wo asoziales Verhalten überlebenswichtig gewesen ist. In der heutigen Situation erfüllt es den Tatbestand der Unzurechnungsfähigkeit.

Die Bewusstseinspyramide ist auf den Kopf gestellt.

Der Begriff der Kritischen Masse ist kein quantitativer Begriff. Es genügt eine ausreichend große Zahl an Entscheidern, die nur durch eine konsequente, einseitig interessengeleitete Negativ-Auslese (Netzwerke, Korruption, Lobbyismus, ungleiche Startbedingungen, gesetzlich begünstigte und geduldete "Steuervermeidung") an ihre Schlüsselpositionen – von den Großkonzernen über Politik, öffentliche Verwaltung, Medien, bis hin zum Bildungssystem, zur Forschung und Wissenschaft - gekommen sind, und die dadurch über nunmehr drei Jahrzehnte lang ungestört qualitativ nachhaltigen Einfluss auf das gesamte wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Leben ausüben können, so dass eine bereits bestehende strukturelle Ungleichheit (alte Industriedynastien, Begünstigung von Erben, der deutsche Nationalcharakter des traditionsverhafteten autoritätsgläubigen Mitläufers) – begleitet und zementiert durch eine beispiellose, ideologisch vergiftete neoliberale Propaganda - eine derartige Unwucht entfesselt, eine derart massive Umverteilung, eine derartige systematische Verhinderung von Chancengleichheit und angemessenen Lebensperspektiven – und jeder hat nur dieses eine Leben -, dass am Ende eine Minderheit eine einstmals funktionierende soziale Marktwirtschaft in eine Karikatur ihrer selbst verwandelt. Jahrzehntelanges enthemmtes Schaufeln von weiteren Privilegien und Vergünstigungen auf die eine Seite, für eine von vornherein durch den Zinseszinseffekt strukturell begünstigte Minderheit, und zugleich Ausgrenzung, Repression, Zwang und mediale Gehirnwäsche für die andere Seite, die Mehrheit, den ausgebeuteten, um seine Aufstiegschancen betrogenen Rest, von dem der größte Teil immer noch nicht ahnt, was ihm geschehen ist, der sich immer noch als Bürger, als Gleicher unter Gleichen wähnt in einem Land, das sich in der Außendarstellung immer noch als führende Industrienation, als weltweit vorbildlichen Rechts- und Sozialstaat präsentiert, der längst zum Melk- und Stimmvieh degradierte Rest, der immer noch die Realität verleugnet, verdrängt, schön redet, psychologisch gelähmt und verblendet durch seine servile Identifikation mit den Aggressor ("woanders ist es auch nicht besser"), während sogar an seiner stetigen Verelendung noch prächtig verdient wird. Die breite Masse kapiert einfach nicht, dass von einem Wirtschaftssystem, das auf Schuldzins basiert, nur das "scheue Reh", die Shareholder, die Casino-Zocker an den "Märkten" profitieren – bis zum vorprogrammierten Crash. In einem System, in dem das einzig Gerechte der Tod ist, denn der holt sich jeden von uns. Ohne Ausnahme. Der Rest, das ist der Frosch, der brav im langsam erhitzten Wasser solange sitzen bleibt, bis das Wasser kocht und er stirbt.. Es findet de facto eine sozialdarwinistische Selektion statt, es hat sich eine vormoderne, abgeschottete Clan-Kultur breitgemacht, in der Blutsverwandtschaft und Nepotismus herrschen, the winner takes it all, und sie endet für Deutschland im mittelalterlichen Feudalstaat. Wenn der Mensch wirklich ein zoon logikon, ein homo oeconomicus wäre, wie uns die "Eliten" einzutrichtern versuchen, dann hätten die 90% schon vor Jahren einen Aufstand angezettelt oder in Scharen dieses Land verlassen. Der geschönte Armutsbericht der Bundesregierung ist eine Bankrotterklärung.

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