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Montag, 16. September 2013

Das Verschwinden der Handschrift


Der Computer verändert das Denken. Nachhaltig. Das zeigt sich nicht nur in der Metaphern der Umgangssprache. Wenn vom Resetten die Rede ist, vom Neustart, vom Runterfahren, wenn Entspannung, vom Schaden auf der Festplatte, wenn das Gehirn gemeint ist.

Ich habe erlebt, wie einem langjährigen Computernutzer, nachdem er aus Versehen ein wichtiges Papierdokument geschreddert hat, ein rettendes Bild im Kopf aufstieg: der blaue Windows Rückgängig-Pfeil.




Man hat festgestellt, dass die Handschrift – ein ganz individuelles Persönlichkeitsmerkmal – durch langjährige Tastaturnutzung degeneriert, dass der Schreibstil sich ändert. Der Prozess des Formulierens von Texten verändert sich, die Texte selber werden einfacher, zusammenhangloser, parataktischer *. Das hängt zum großen Teil mit der weit verbreiteten Methode des Copy & Paste zusammen. Und wenn man sich den seit den fünfziger Jahren in der neueren Sprachphilosophie und -wissenschaft unbestrittenen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken klar macht - kurz und knapp gesagt: die Sprache formt den Gedanken, es gibt nicht so etwas wie im Gehirn gebrauchsfertig abgespeicherte Gedanken, die man nur noch abrufen und mittels Tastatur auf den Bildschirm zu transportieren braucht -, dann muss man auch Rückschlüsse auf das gedankliche und stilistische Niveau solcher Bildschirmtexte zulassen.
Die körperlichen Auswirkungen dauerhafter Computerarbeit auf Augen und Rücken sind schon lange bekannt und gefürchtet, die psychosozialen weniger. Ab und zu ein Amoklauf, nach dem dann wieder über den Einfluss von Computerspielen spekuliert wird. Hin und wieder ein Bericht über zunehmende narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Geltungsbedürfnis und Größenwahn werden durch das sofortige enorme Echo auf das Posten von private Belanglosigkeiten, durch die virtuelle Ersatzbefriedigung und Schein-Zuwendung von Hunderten von Facebook-Freunden wenn nicht verursacht, dann doch zumindest verstärkt. Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis die gesellschaftlichen Folgen in vollem Umfang zu Tage treten.
 (Geschrieben 2006)


* Mangels anderen verfügbaren Dokumentationsmaterials habe ich  - zum Vergleich mit den aktuelleren Texten auf diesem Blog - hier einen über 20 Jahre alten Text (handschriftlich zu Papier gebracht, Endfassung auf dem Mac erarbeitet) eingestellt, der diese These zu verdeutlichen vermag.

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