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Mittwoch, 18. September 2013

Reif zur Übernahme III



"Die alte jüdische Legende von den 36 unbekannten Gerechten, die immer da sind und ohne deren Anwesenheit die Welt in Scherben fiele, sagt letztlich darüber etwas aus, wie notwendig solch 'edelmütiges' Verhalten beim normalen Gang der Dinge ist."
Hannah Arendt, 1948,  Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?, S. 68 in dies.: Israel, Palästina und der Antisemitismus, Wagenbach, Berlin 1991, S. 39 - 75




Three Wise Monkeys stencil in Barcelona, Spain, 
by grahamc99, flickr
Deutschland ist mittlerweile ein potemkinsches Dorf. Die Regierung bedient nur noch eine privilegierte Minderheit, die in einer vollkommen abgeschotteten selbstreferentiellen Blase, einem Paralleluniversum lebt. Der Rest, die Mehrheit der Bevölkerung, ist abgeschrieben, sich selbst überlassen, nur noch mit dem zermürbenden Kampf um den bloßen Lebensvollzug, die nackte Existenz beschäftigt: Wohnungssuche, Jobsuche, Suche nach Kitaplätzen, Suche nach Zusatzeinkommen, nach Kreditangeboten, Suche nach der günstigsten KFZ-Werkstätte, der günstigsten Tankstelle, dem günstigsten Strom- und Mobilfunkanbieter, der Beschaffung von Drogen. Wenn die Hälfte der Gesamtbevölkerung, die 40 Millionen Menschen, denen seit Jahren das Wasser bis zum Hals steht, von heute auf morgen verschwinden würden, die Privilegierten würden es vielleicht noch nicht einmal merken. Totale Realitätsverleugnung. Auf dem Papier die viertgrößte Industrienation der Welt, mit einem der höchsten Bruttosozialprodukte, in der Realität, hinter den Pappkulissen verrottete Häuserzeilen, ausgestorbene Dörfer, kaputte Straßen und Bahnstrecken, Slums, organisierte Kriminalität, Gewalt, Armut, Krankheit - wie in den Entwicklungsländern.


Autoritäre Charakterstruktur


Der im patriarchalen Deutschland vorherrschende und geförderte Sozialcharakter ist die Autoritäre Persönlichkeit:
"Der geistige Konformismus verträgt keine Andersdenkenden und keine pluralistische Welt. Als typische Züge des autoritären Charakters nannte Erich Fromm die Unterwürfigkeit gegenüber Autoritätspersonen, außerdem Destruktivität (Zerstörungslust), Selbsterhöhung und starre Konformität: Diese Menschen bewundern die Autorität und streben danach, sich ihr zu unterwerfen; gleichzeitig wollen sie selbst Autorität sein und andere sich gefügig machen. Zu dieser durchgehenden Orientierung an Macht und Stärke gehört eine Denkweise, die an Konventionen hängt, zugleich abergläubische und stereotype Züge hat, sensible und künstlerische Seiten zurückweist und vor allem alles Fremde, fremde Menschen und Sitten, ablehnt. Die autoritäre Persönlichkeit tendiert dazu, Ideologien zu folgen, ist konform, bei extremer Ausprägung „potentiell faschistisch“ und destruktiv. " (Zitat aus der Wikipedia)
Ich habe einige Exemplare dieses Sozialcharakters innerhalb meiner Verwandtschaft und kann deshalb die obige Beschreibung um folgende Punkte ergänzen: Mode- und Markenhörigkeit (Kleidung) bei den Frauen, Chauvinismus bei den Männern. Ritualisierte Lebensführung (Tatort gucken am Sonntag). Extreme Statusorientierung (materieller Besitz, Sozialprestige). Manische Abgrenzung "nach unten", servile Bewunderung für Prominenz und materiellen Reichtum. Eine eigene Meinung traut man sich nur zu vertreten, wenn man eine anerkannte Autorität als Gewährsmann anführen kann. Extreme Geist- und Intellektuellenfeindlichkeit bei gleichzeitiger (heimlicher) völlig unkritischer Bewunderung für formale akademische Grade. Keinerlei geistige Interessen, keine (ausgefallenen) Hobbys. Scheinheiligkeit, Rückgratlosigkeit, Intrigantentum, Intoleranz, Sadismus. Keine Selbstdistanz, keine Selbstreflexion, keine Selbstironie. Man geht da und dorthin, man folgt dieser oder jener Einladung, nicht weil man es gerne möchte, sondern "weil es sich so gehört", weil man sich "mal wieder blicken lassen muss". Man macht grundsätzlich nur das, was alle machen, ohne jemals den Sinn zu hinterfragen. Totale Fremdbestimmung. Und vor allem: Jeder, der in seiner Lebensführung, in seinen Ansichten und Wertvorstellungen auch nur Millimeter von dem abweicht, was der autoritäre Charakter als "richtig" definiert, nämlich seine eigene beschränkte Perspektive, wird mit aller Macht stigmatisiert, ausgegrenzt, pathologisiert, angefeindet, gehasst. You are not one of us. Der bevorzugte psychologische Abwehrmechanismus ist die Projektion, das Übertragen von eigenen, als negativ oder gesellschaftlich unerwünscht bewerteten Gefühlen oder Einstellungen in andere Personen oder Gruppen, oder auch die Verschiebung, d.h. die Wut über Autoritäten wird an "Untergebene" wie Kinder, (Hausfrau) oder Haustiere, Patienten, Schüler, Mitarbeiter ausgelassen. Der autoritäre Charakter kann sich keine anderen sozialen Beziehungen vorstellen als solche, die sich über hierarchische Beziehungen, über Hackordnungen, über Kontrolle und Macht definieren, d.h. er ist nicht in der Lage, mit anderen auf Augenhöhe zu kommunizieren, andere Lebensweisen und Standpunkte als Ergänzung, als Erweiterung geschweige denn als Korrektiv seiner eigenen Begrenztheit anzuerkennen. Es gibt für ihn entweder nur ein Oben oder Unten, die Unterordnung unter andere oder die Kontrolle über andere Menschen. Und in welchem Sozialverband ließen sich Kontroll- und Machtverhältnisse einfacher und nachhaltiger herstellen als in der Familie? Deshalb ist der autoritäre Charakter ein "Familienmensch", deshalb hat er wenig bis gar keine sozialen Kontakte außerhalb der eigenen Sippe, außerhalb seines Machtbereichs, wo er sich sicher fühlt. Deshalb arbeite er so gern im Staatsdienst, in Behörden, in Positionen, in denen er nach oben buckeln und nach unten treten kann.

Ich behaupte nicht, dass es so etwas gibt wie den deutschen Nationalcharakter, der sich als Untertanengeist manifestiert. Sondern die heutige Vorherrschaft - man sollte eher sagen Wiedererweckung - des autoritären Charakters ist das vorläufige Endergebnis einer jahrzehntelangen Selektion, einer Negativ-Auslese. Es gab und gibt immer auch die anderen, den Gegenpart, das Korrektiv zum autoritären Charakter, aber diese Minderheit hat sich mittlerweile angewidert zurückgezogen, ist ins Ausland emigriert, weil sie die geistige Enge und Borniertheit, das starre Klammern an Konventionen nicht mehr ertragen hat, oder sie hat sich resigniert in die innere Emigration zurückgezogen. Die Kritische Masse ist längst erreicht, das Biotop gekippt. Jetzt, wo sich Diederich Heßling frei entfalten kann, ohne Einspruch, ohne Grenzen, ohne Sanktionen und soziale Ächtung befürchten zu müssen, kommt die hässliche Fratze zum Vorschein, und zwar genau dieselbe, die die Welt in die Barbarei geführt hat. Wir anderen, die die sado-masochistische Charakterstruktur genau deshalb erkennen können, weil wir selber frei davon sind, müssen dankbar sein, dass es hier und da noch Zeitgeist-Beobachter gibt, die diesen Rückfall beim Namen nennen: Willkommen im Wilhelminismus.
"Der Echtzeitjournalismus hat uns geistig auf den Wilhelminismus zurückgeworfen. (...) Der atem- und besinnungslos hinter der Kutsche des Staatenlenkers herlaufende, „hurra!“ brüllende Bürger: Man kennt dieses Bild aus Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ (1914/18) und dem Film Wolfgang Staudtes (1951). Die hiesige Öffentlichkeit hält sich etwas darauf zugute, dass sie aus diesem Untertanengeist die richtigen Lehren gezogen hat und eine Satire darauf heute nicht mehr nötig hat. Was sie aber jetzt, anlässlich des Besuches eines demokratisch legitimierten Staatschefs, generiert, ist reine Kriecherei." (FAZ, Edo Reents: "Echtzeit-Journalismus beim Obama-Besuch. Auf der Damentoilette wurde ein Ring gefunden", 19.06.2013)
Die Wiederbelebung wilhelminischer Protz-Architektur befürchtet SPIEGEL-Kolumnist Georg Dietz auch beim Berliner Stadtschloss-Projekt.

Manch ein Kommentator sieht den Siegeszug des Autoritären Charakters lediglich als reines Krisensymptom, wie in dem Telepolis-Artikel "Bloch versus Dschungelcamp":
"Das Dschungelcamp ist deshalb so erfolgreich, weil es bestimmte Bedürfnisse bei einem immer breiter werdenden Publikum befriedigt, die zuvor in solch einer Intensität nicht präsent waren. Es ist gewissermaßen ein Produkt der "Mitte", in der sich immer stärker die Wünsche regen, andere Menschen erniedrigt, gequält, unterworfen und ausgebeutet zu sehen. Der Erfolg des Dschungelcamps verweist somit auf ein sich immer stärker aufstauendes autoritäres Potenzial in der Bevölkerung. Ohne das krisenbedingt anschwellende Bedürfnis, Menschen im Dreck kriechen zu sehen, wäre das Dschungelcamp eine Marginalie der Fernsehgeschichte geblieben."
Andere sehen, wiederum am Beispiel des RTL-Dschungelcamps, Anzeichen für eine sich stetig beschleunigende gesellschaftliche Verrohung, wie Daniel Martinssen auf Freitag online mit dem Artikel "Der Dschungel frisst die Gesellschaft" vom 29.01.2013
"Viele der Autoren bescheinigen der Sendung Kultstatus, gute Unterhaltung und Gelegenheit zur Reflexion. Sie verkennen dabei, dass sie einer in der Tendenz menschenverachtenden Show gesellschaftliche Relevanz verleihen. Die Nominierung durch das Grimme-Institut ist nun der Ritterschlag. Ein solches Fernsehformat hat nun alle Möglichkeiten zu expandieren, sich zu verselbstständigen und fortzuentwickeln.  (...) Wer nicht erkennt, dass sich menschenfeindliche Strukturen nicht über Nacht bilden, wer nicht erkennt, dass sich Ekel und Faszination immer steigern müssen und bei Genitalverspeisung von irgendwelchen Tieren keinen Halt machen, der darf sich auch nicht wundern, wenn am Ende dieser Entwicklung  die Tribute von Panem mit ihren "Hunger Games" die bittere Normalität widerspiegeln. Die Gesellschaft verfällt immer schleichend."
In jedem Fall wären Sendungen wie Dschungelcamp oder auch die Supermodel- und Superstar-Formate in den 70erJahren vollkommen undenkbar gewesen oder höchstens als Satire oder Dystopie durchgegangen - man denke z.B. an "Das Millionenspiel" von 1970, basierend auf einem Drehbuch von Wolfgang Menge. Eine Reminiszenz an diese visionäre Fernsehproduktion war der US-amerikanische Film "Running Man" von 1987. Interessant: Am 28. Februar 1989 wurde dieser Film von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert.

Die Heßlings von heute wissen nicht mehr, dass sie die Staatsmacht nur verliehen haben an die Repräsentanten ihres Willens. Deutsche nehmen den Staat als unveränderliche Größe außerhalb ihres eigenen beschränkten Horizonts wahr - der Staat ist immer da, den hat man nun mal -, und leben in dem Bewusstsein, sich irgendwie mit diesem "Staat" arrangieren zu müssen, egal wie. Und am bequemsten – und am unmündigsten – ist nun einmal die kritiklose Anpassung, die Unterwerfung.

Dieser Artikel von Mark Schieritz auf ZEIT online vom 16.05.2009 mit dem Titel "Danke, Staat!" ist ein Beispiel dafür, wie diese Anbiederung, diese Unterwerfungshaltung sich auch in den Leitmedien wie selbstverständlich ausbreitet. Dazu schrieb ich auf ZO folgenden Kommentar:
"Und wieder was dazugelernt. Danke, Staat? und dann geht’s nur noch um die (Bundes-)regierung. So was wie eine Staatsbevölkerung brauchen wir also schon nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber mir fallen im Vergleich zum Ausland zwei Dinge an Deutschland besonders auf: Dies Land hat (noch) einen sehr starken Mittelstand, der als Rückgrat der deutschen Wirtschaft den Großteil der Arbeits- und Ausbildungsplätze stellt. Und wir haben als Ergebnis extremer Arbeitsverdichtung hochproduktive Erwerbstätige, die nicht erst seit gestern hart am Limit ackern – bei sinkenden Reallöhnen. Ich habe Lobreden auf die Regierung so was von satt. Vielleicht könnte man zur Abwechslung auch mal diejenigen zur Kenntnis nehmen, die den Laden hier noch zusammenhalten. Damit kann sehr bald Schluss sein, wenn Großindustrie und Großbanken weiter gehätschelt werden.Vielleicht wäre dieser Artikel im Ressort "Meinung" doch besser aufgehoben. Das Ressort "Hofberichterstattung" gibt’s ja bei der ZEIT nicht."
Und schließlich haben wir da noch die Entstehung neuer politischer und rechtspopulistischer Gruppierungen, bei denen man wirklich manchmal den Eindruck gewinnt, dass deren Vertreter sich wünschen, direkt in die Kaiserzeit zurückgebeamt zu werden. Männerträume.
Der Soziologe Volker Weiß hat in seiner Analyse "Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten" die Traditionslinie dieser politischen Strömung von Oswald Spengler bis hin zu Thilo Sarrazin nachgezeichnet. Übergriffe auf Juden nehmen zu. Fremdenfeindliche Ressentiments sind mittlerweile breit in der Mitte der Gesellschaft verankert.

In Deutschland haben wir jetzt die vollkommen absurde Situation, dass ausgerechnet die Linke, die als einzige Bundespartei gegen den ESM gestimmt hat, vom Verfassungsschutz beobachtet wird, demselben Verfassungsschutz, der die rechtsextreme NSU-Mörderbande jahrelang unbehelligt gelassen, womöglich sogar gedeckt hat. Ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes soll auf seinem Dachboden Bücher über die NS-Zeit gehortet haben. 14 Jahre lang haben Rechtsextremisten in Deutschland Bürger mit ausländischer Herkunft umgebracht, insgesamt 10 Tote. Zudem soll das Mördertrio 14 Banküberfälle und einige Sprengstoff- und Nagelbombenanschläge auf Ausländer auf ihrem Konto haben. Bei der Spurenverfolgung anhand der Mordwaffe wurden nur Ausländer als potentielle Mörder in Betracht gezogen. Die Familien der Opfer wurden verdächtigt. Akten wurden vernichtet. Es gab Ermittlungspannen ohne Ende.

Die dem autoritären Charakter eigene Angst vor dem Fremden, Unbekannten bricht sich in Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz Bahn. Das Partiarchat wünscht sich die Frau zurück an den Herd.
"52 Prozent der Bevölkerung meinen, Deutschland sei in einem gefährlichen Maße überfremdet. Die Mehrheit der Europäer fordert, dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen sollten, und glaubt, dass der Islam eine intolerante Religion sei. (...) "Der Mensch ist evolutionär noch nicht klug genug, die Umwelt so wahrzunehmen, wie sie ist. Er muss kategorisieren, um die Informationsflut zu reduzieren", sagt Andreas Zick, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Bielefeld."
"Evolutionär noch nicht klug genug", das ist von Professor Zick noch sehr höflich ausgedrückt. Ich halte diesen ZEIT-Artikel, aus dem das obige Zitat stammt, für eine grobe unverantwortliche Verharmlosung des Problems, weil er Vorurteile, Schubladendenken und Intoleranz apologetisch auf anthropologische Ursachen zurückzuführen, als psychologische Überlebenstechnik zu rechtfertigen versucht. Ich glaube, die Mehrheit der Deutschen ist einfach dumm wie Brot. Oder zumindest denkfaul. Laut der aktuellen Nichtwähler-Studie des Meinungsforschungsinstitutes Forsa verstehen 70 Prozent aller Deutschen nicht, was Politiker sagen. Diese Studie birgt noch weitere ungemütliche Fakten, zum Beispiel dass in fast keiner anderen westeuropäischen Demokratie die Wahlbeteiligung so stark gesunken ist wie in Deutschland. Und: 
"Eine niedrige Wahlbeteiligung führt somit auch zu mehr sozialer Ungerechtigkeit. Da die Politik den aufgrund dieser Disparität erforderlichen Interessensausgleich oft nicht mehr in ausreichendem Maße vornimmt, fühlen sich die unterprivilegierten Bevölkerungsschichten zu Recht benachteiligt. Die daraus resultierenden Gefühle der Entfremdung und Ohnmacht führen in Deutschland bisher noch nicht zu einem radikalen Wahlverhalten, wohl aber zu immer größerer Wahlabstinenz. (...) Empfehlungen wie die der Konrad-Adenauer-Stiftung, sich nicht um die wachsende Zahl von Nichtwählern zu kümmern, da das wahlarithmetisch wenig Nutzen brächte, sind deshalb abwegig."
Die CDU-nahe Konrad-Adenauer Stiftung empfiehlt also, Nichtwähler zu ignorieren. Das ist naheliegend für die Herrschenden, denn jeder Nichtwähler stärkt die Position der CDU und der anderen "Volksparteien". Für die Regierungsparteien kann der Anteil der Nichtwähler gar nicht hoch genug sein. 2009 habe ich nach der damaligen Bundestagswahl dazu folgenden Kommentar geschrieben:
"Ich glaube mich zu erinnern, dass es 27% [Nichtwähler] waren, aber das ändert nichts an der Problematik, die Sie treffend beschreiben. Allerdings: Was heißt schon der Satz: "die Demokratie verliert ihre Legitimität", wenn sich daraus keinerlei Konsequenzen für die Akteure in diesen Drama ergeben? Ich fürchte, diese sachlich richtige Diagnose würde auch bei einer Wahlenthaltung von über 50% völlig folgenlos bleiben. Die sogenannten Volksvertreter ficht das doch überhaupt nicht an. Im Gegenteil: Ein hoher Nichtwähler-Anteil ist das Beste, was den schrumpfenden Parteien überhaupt passieren kann. Je weniger Wähler ihnen in die Suppe spucken können, desto besser. Und was das Projekt 'Zerschlagung des Sozialstaats' betrifft: Auf dem Rücken einer komplett entsolidarisierten, gespaltenen Gesellschaft lässt sich wunderbar regieren."
Die Borniertheit des ab- und ausgrenzenden, undifferenzierten Denkens in Kategorien von rechts/links, oben/unten, Pauschalisierungen à la arbeitslos ist gleich dumm, faul, versoffen, unnütz, nimmt aus meiner Sicht in diesem Land irrationale, geradezu hysterische Ausmaße an. Als ob es keine ungebildeten und moralisch verwahrlosten Gutverdiener gäbe (sind mir schon begegnet), keine hochgebildeten Armen (dito), als ob es keine Steuerbürger oberhalb der Bemessungsgrenze aus dem linken Lager gäbe. Als ob es völlig undenkbar wäre, dass es auch Menschen gibt, die es nicht nötig haben, ihre Existenzberechtigung, Identität und Selbstachtung von ihrem Kontostand und ihrer Steuer- und Abgabenquote abzuleiten.

Vermögensverteilung und Ungerechtigkeit


Folgenden Kommentar für ein Online-Forum habe ich 2009 zum Thema Vermögensverteilung formuliert:
"Anfang dieses Jahres hat das DIW wieder einmal eine Studie zur Vermögensverteilung veröffentlicht.  
"Untergliedert nach der Dienstlaufbahn zeigt sich, dass Beamte im einfachen oder mittleren Dienst ein Nettovermögen von gut 63 000 Euro und damit etwa so viel Vermögen aufwiesen wie Meister und Angestellte mit qualifizierter Tätigkeit. Beamte des gehobenen oder höheren Dienstes hingegen verfügten über ein individuelles Nettovermögen von mehr als 140 000 Euro und damit über gut 20 000 Euro mehr als Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben wie Direktoren, Geschäftsführer oder Vorstände größerer Betriebe.Erwartungsgemäß fällt das Vermögen von Selbständigen am höchsten aus. Zum einen betreiben Selbständige stärker Altersvorsorge in Form von privaten Versicherungen, zum anderen ergibt sich dies aus dem Betriebsvermögen selbst. Je größer ein Betrieb, desto höher ist das individuelle Vermögen von Selbständigen. Dieses lag 2007 bei Selbständigen ohne Mitarbeiter bei etwas mehr als 175 000 Euro und stieg auf mehr als 1,1 Millionen Euro für Selbständige mit mehr als zehn Mitarbeitern.
Nichterwerbstätige und Arbeitslose haben ein weit unterdurchschnittliches Vermögen – im Jahr 2007 etwas mehr als 50 000 Euro. Für die Gruppe der Rentner und Pensionäre ergaben sich lebenszyklusbedingt überdurchschnittliche Vermögen (114 000 Euro), da diese im Vergleich zu derzeit Erwerbstätigen bereits über einen langen Zeitraum Vermögen akkumulieren konnten.
Die größten Veränderungen beim Nettovermögen seit 2002 verzeichneten die Gruppen der Selbständigen mit – je nach Mitarbeiterzahl – 20 000 bis 50 000 Euro und der Ruheständler mit rund 17 000 Euro. Nichterwerbstätige und Arbeitslose des Jahres 2007 verfügten über etwa 13 Prozent (rund 7 400 Euro) weniger Nettovermögen als die entsprechende Gruppe des Jahres 2002." (Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 4/2009, S. 63)
Demnach sind die Vermögen zwischen 2002 und 2007 besonders bei Selbstständigen gestiegen, an zweiter Stelle der Gewinner liegen - man höre und staune - Beamte im gehobenen und höheren Dienst, erst danach folgen Führungskräfte wie Geschäftsführer oder Vorstände. Fazit der Studie: Weitere Verschärfungen der Situation sind zu erwarten, insbesondere durch drohende Altersarmut und die Gesetzgebung seit Januar 2009 wie Reform des Erbschaftsrechts und Abgeltungssteuer. Weitere bereits von der alten Regierung beschlossene Entlastungen in der Unternehmen-, Erbschaft- und Einkommensteuer treten Anfang 2010 in Kraft und kosten 21 Milliarden Euro. Angesichts dessen könnte man mittlerweile glatt auf die Idee kommen, dass Politik für Einkommensbezieher oberhalb der Pflichtversicherungsgrenze, ob verbeamtet oder nicht, ausnahmslos von allen Parteien in den letzten Regierungsjahren betrieben wird, egal welcher Couleur. Ich denke nicht, dass die FDP wieder schwächer wird, sondern dass sie weiter stetigen Zulauf von immer mehr Jüngeren erhält, von denjenigen, die die Doktrin der Ego-Gesellschaft komplett verinnerlicht haben, während die Älteren, die mit Begriffen wie sozialer Verantwortung, Bürger- und Gemeinsinn noch etwas anzufangen wussten, wegsterben werden. Dann allerdings wird es in diesem Land erst richtig spannend."
Erbschaftssteuer ist eine "Dummensteuer". Die "Plusminus"-Sendung vom 16.01.2013 informierte darüber, dass in Deutschland im Jahr 2013 so viel vererbt wird wie nie zuvor, über 240 Milliarden Euro. Mit legalen Steuertricks kann man die Erbschaftssteuerpflicht umgehen. Vererbungen an Kinder sind steuerfrei. Oder man gründet einfach eine GmbH. Zum Vergleich: 17,5% Steuern fallen auf Arbeitnehmergehälter an. 
"Insgesamt haben die Bundesländer über die Erbschaftsteuer, die derjenige bezahlen muss, der etwas erbt oder geschenkt bekommt, im Jahr 2011 gerade einmal vier Milliarden Euro eingenommen. Gemessen an einer Gesamterbsumme von 240 Milliarden liegt der Anteil der Steuer damit bei 1,6 Prozent." (...) "Darüber hinaus gibt es noch viele andere Möglichkeiten, die Erbschaftsteuer zu umgehen: Wegzug in die Schweiz, Familienstiftung gründen, bis hin zur Adoption, um dann als Kind unter den Freibetrag zu fallen. Die "Gestaltungsfreiräume" sind so zahlreich, dass Anwälte von einer "Dummensteuer" sprechen, die nur der zahlt, der sich nicht rechtzeitig um eine Lösung kümmert."
Eine Korrektur dieser ungeheuerlichen Ungerechtigkeit ist nicht in Sicht, denn "schon dem Schließen der krassesten Schlupflöcher haben die Koalitionsfraktionen in Berlin aktuell im Dezember nicht zugestimmt. (...) Schon heute stammen in Deutschland aber 62 Prozent aller Einnahmen aus Steuern und Abgaben auf Arbeit und Verdienst. Nur zwei Prozent kommen aus bestehenden Vermögen. Beim Erben gilt das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben."

Noch mehr Zahlen? Gerne. Zum Beispiel auf Telepolis am 03.04.2013:
"In Deutschland zum Beispiel besitzen die oberen 10 Prozent über zwei Drittel des Gesamtvermögens. Schlimmer noch: Die reichsten 0,1 Prozent (also weniger als 70.000 Bundesbürger) horten knapp ein Viertel des Gesamtvermögens. Und um die Zahlenspiele weiterzutreiben: Die oberen 0,5 Prozent (also um die 350.000 Bundesbürger) besitzen gemeinsam so viel Vermögen wie die unteren 90 Prozent (also um die 63.000.000 Bundesbürger)."
Beispielhaft und mit voller Empörung hat Hans-Ulrich Wehler in der ZEIT vom 07.02.2013 die Steuer-Ungerechtigkeit auf den Punkt gebracht.
"Im Bann der neoliberalen Politik wurde auch die Steuerbelastung für die Alt- und Neureichen drastisch abgemildert. Zurzeit gilt, dass die Besteuerung von Kapitaleinkünften deutlich geringer ausfällt als die Steuer auf Einkommen aus Arbeit. Die Kapitalertragsteuer liegt bei 25 Prozent, die Belastung des Arbeitseinkommens bei bis zu 45 Prozent. Am Anfang der achtziger Jahre lagen Gewinn-, Vermögens- und Lohnsteuer mit 28 Prozent noch in etwa gleich auf. Seitdem wurde die Gewinnsteuer auf 15 Prozent abgesenkt. Die Vermögensteuer wurde nach einer Intervention des Bundesverfassungsgerichts, der man sofort mit einer Neufassung der gesetzlichen Grundlage hätte begegnen müssen, seit 1995 gar nicht mehr erhoben – zum Erstaunen jener EU-Länder, die diese Steuer erheben (Musterbeispiel Frankreich). Die Tabaksteuer ist ungleich höher als die Steuer auf Kapitalgewinne. Die Abgabenquote bei höheren Gehältern liegt bei 33,7 Prozent, die Steuer aus Erbschaften bei grotesken 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die neue Erbschaftsteuer ist überdies sofort durch Freibeträge und Ausnahmeregelungen durchlöchert worden. Daher schrumpfen bizarrerweise die Beträge aus ihr, obwohl die vererbten Nachlässe immer größer werden. Der Bundesfinanzhof hat daher die Verfassungskonformität der reformierten Erbschaftssteuer bezweifelt; das Bundesverfassungsgericht hat jetzt darüber zu urteilen. Die Bilanz: Die Lohn-, Umsatz- und Verbrauchsteuern ergeben 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens, die Unternehmens- und Gewinnsteuern erreichen dagegen nur mehr 12 Prozent. Von einer Steuerreform, die sich Gerechtigkeitsvorstellungen über die Verteilung des erwirtschafteten Sozialprodukts annähert, ist wegen der mächtigen Contra-Lobby keine Rede. (...) Hier geht es keineswegs um die Durchsetzung genuiner Marktkräfte, wie das die hegemoniale Neoklassik in den USA, in Großbritannien und Deutschland behauptet, sondern um klassische Herrschaftsentscheidungen in einer kleinen Arena, wo wenige Männer das Sagen haben."
Deutschland ist eine Steueroase. Allein das ist schon ein Skandal: Von jedem normalen Steuerbürger weiß der Fiskus immer auf den Cent genau, was im Jahr verdient wurde. Aber bei den Unternehmen kann nur hilflos geschätzt und hochgerechnet werden. Und auf dieser Grundlage wird dann ein Bundeshaushalt aufgestellt. Unglaublich. Wie ich lesen musste, gibt es offenbar noch nicht mal eine verlässliche Datenbasis. Ich habe keine aktuellen Daten zur Einkommensstatistik gefunden. Da muss erst die EU-Kommission kommen und u.a. feststellen, dass der tatsächlich bezahlte Steuersatz 2003 bei nur 17,4 % lag. Der Durchschnitt der 15 „alten“ EU-Staaten lag bei 20,2% und selbst der EU-Durchschnitt insgesamt, inklusive der osteuropäischen „Niedrigsteuerländer“ lag bei immerhin 17,7 %. Entgegen dem europäischen Trend ist der effektive Steuersatz in Deutschland von 1995 bis 2004 gerade konstant geblieben, während er in der EU insgesamt gestiegen ist.

Feudalstaat


Auf dem Papier ist Deutschland eine Demokratie – alle Macht geht vom Volke aus - , faktisch ein Feudalstaat, gelenkt von einer Doppelspitze aus Großkapital (Konzerne, Industrie, altes Vermögen) und Politik. Das Großkapital befiehlt, die Politik setzt um. Auf dem Papier herrscht Meinungsfreiheit, faktisch mediale Desinformation, Überwachung, Repression. Auf dem Papier soll die Gleichstellung der Geschlechter erreicht werden, faktisch haben wir die patriarchale Herrschaft. Die freiheitliche Grundordnung wird schon seit langem untergraben. Deutschlands Bürger sind zur Beute der 1% geworden, genauso wie der Rest von Europa, genauso wie die gesamte ehemals zivilisierte Welt.
"Das Kartell der Profiteure ist so stark, dass es auf die Wirklichkeit keine Rücksicht mehr nehmen muss. Es schafft sich seine eigene Wirklichkeit. (...) Es ist ein System der Lüge. Die Ideologen des Neoliberalismus reden gerne von Leistung, die sich lohnen soll. Aber wir leben nicht in einer Leistungsgesellschaft, sondern in einem Ständestaat." (SPIEGEL online, Jakob Augstein: "Armutszeugnis für Deutschland", 11.03.2013)
Es gibt zwei gesellschaftliche Gruppen, von denen niemals ein Impuls zur Veränderung kommen wird. Die ganz oben, die leben können wie und wo es ihnen gefällt, ergo ohne jegliche nationale oder regionale Verbundenheit, ohne Verantwortungsbewusstsein, und die ganz unten. Der Staat hängt an den Lohnempfängern wie eine Klette, Reichtum dagegen bleibt eine unbekannte Größe. Wo kommt das scheue Reh her, wo flieht es hin, interessiert ihn nicht. Die Besitzenden werden keinen Millimeter Boden freiwillig preisgeben, sondern alles daran setzen, ihren Besitz weiter zu vergrößern, auf Kosten anderer. Sie haben auch buchstäblich keine andere Wahl. Das ist der ganze Sinn und Zweck ihres Daseins, andere Werte kennen sie nicht. Deshalb sind ihnen auch die Probleme und die Zukunft des Landes, in dem sie leben, völlig egal.

Deutschlands Wirtschaft lebt nur noch von der Autoindustrie, einer Dinosauriertechnologie, und von ein paar hochspezialisierten Industriezweigen. Es ist vollkommen abhängig vom Export in die Länder, die es sich noch leisten können, diese Waren und Dienstleistungen abzunehmen. Und das werden immer weniger. Das war's. Das Land zehrt von seinem guten Ruf, den es in den Aufbaujahren erworben hatte und den es schon seit langem nicht mehr verdient hat.

In absehbarer Zeit wird im Zentrum Europas mehr als ein Viertel der Bevölkerung auf Grundsicherungsniveau herumkrebsen, während der Rest keine Steuern und Abgaben mehr zahlen will oder kann. Schöne Aussichten. Und keine potente lebensfähige Nation in Sicht, die diesen heruntergewirtschafteten Laden übernehmen will.

Es geht in der deutschen Ständegesellschaft nur noch darum, die Konkurrenz klein zu halten und wegzubeißen. Um nichts anderes. Daher auch die Sucht nach formalen Qualifikationsnachweisen, nach Doktor- und Professorentiteln. Alles dient der Distinktion. Und wenn die eigene Qualifikation nun mal nicht ausreicht, wird sich der Titel eben gekauft. So wie man sich in dieser korrupten Welt alles kaufen kann. Von der medizinischen Vorzugsbehandlung bis zum Gerichtsurteil.

Die Demokratie als Herrschaftsform ist in Deutschland nur von außen aufgesetzt auf einen zutiefst obrigkeitshörigen Ständestaat. Man erkennt das schon daran, dass jeder offenbar einen anderen Demokratie-Begriff hat. Wenn die Bürger, die Abgezockten, nach mehr Demokratie schreien, meinen sie: Ich will was abhaben. Wenn die Reichen vor der Abschaffung der Demokratie warnen, meinen sie in Wahrheit, dass ihre persönlichen Freiheitsrechte  - und nur ihre! -  nicht beschnitten werden dürfen, unter anderem die Freiheit, ihre hinterzogenen Vermögen da zu parken, wo sie wollen.

Angst macht manipulierbar


In einer exzellenten Buchrezension zu Adelheid Wedel's "Armut hier und heute" in der Leipziger Internet-Zeitung heißt es:
"Der Hauptgrund dafür: Die genialen Arbeitsmarkt-Instrumente der Hartz-Kommission haben dazu geführt, dass auch weite Teile des Mittelstandes in die Abwärtsspirale gerieten, ihre festen Einkommen verloren. Das Ergebnis: Während in allen europäischen Nachbarländern das durchschnittliche Lohnniveau um teilweise zweistellige Prozentzahlen anstieg, sank es in Deutschland um 0,8 Prozent. Gleichzeitig explodierten die Einkommen und Vermögen der reichsten 10 Prozent in Rekordhöhen. (...) Einige Autoren sprechen hier von einer "manipulativen Gesellschaft": Man schafft die Bedingungen, damit Menschen manipulierbar werden. Was nicht nur Autokraten in Russland erstaunlich große Freiräume schafft, die Gesellschaft in ihrem Sinne (und im Sinne ihrer Lobby) zu verformen. Nichts ist so leicht zu manipulieren wie Menschen, die Angst haben."
Deutschland ist ein weißer Zwerg kurz vor der Implosion. Es hat die letzten drei Jahrzehnte noch gezehrt vom Mythos, von dem, was in den Gründerjahren aufgebaut und dann vom Neoliberalismus Stück für Stück wieder vernichtet wurde. Als Wirtschaftsstandort entspricht das Land infrastrukturell in Kürze dem, was die ostdeutschen Kommunen bereits heute darstellen. Keine Rohstoffe. Energetisch nicht autark. Bauliche Infrastruktur verrottet, veraltet. Dieses Land hat nicht das geringste Entwicklungspotential. Eine einzige no-go-area für alles, was nicht seit 10 Generationen autochon deutsch ist. Grundbesitz hat Vorrang vor Bürgerrechten. Wer sein Stück Land nicht an die Bodenspekulanten verkaufen will, wird enteignet. Zwangshypotheken werden die Staatskasse auffüllen. Verblödete, servile Bevölkerung, psychopathische Entscheidungsträger. In Kürze sind 2/3 der Bevölkerung verrentet oder pensioniert, von den Rentnern werden die meisten an der Armutsgrenze leben. Von denen wiederum werden die meisten zu Pflegefällen werden. Die Konsequenz: völliges Desinteresse an Zukunftsfragen. Die klugen und weitsichtigen, die mündigen Bürger, die Querdenker sind bereits vor Jahrzehnten geflüchtet. Wer hier immer noch freiwillig lebt, ist komplett fremdbestimmt, systemkonform, oder es bleibt ihm nichts anderes übrig, weil er unterqualifiziert, zu alt, krank oder verschuldet ist. Dieses Land kann sich in Zukunft nur noch profilieren als Steueroase für Vermögende und Erben (was es ja seit Jahrzehnten bereits tut), als head office für multinationale Konzerne oder als Brückenkopf für Nato-Bündnispartner.

Deutschland wird von Menschen regiert, die nicht begreifen wollen, dass die Leidensfähigkeit irgendwann ein Ende hat. Die Armen werden fliehen, solange sie noch einen Kopf und zwei Beine haben, die Wirtschaft wird fliehen, denn was will man Menschen denn noch wegnehmen, was verkaufen, die nichts mehr besitzen außer ihr Leben? Die menschliche Würde ist ja bereits wegrationalisiert worden. Wer es wirklich darauf anlegt, kann sich auch in einer Hochsicherheitszelle das Leben nehmen.

Derweil geht die Mythen- und Legendenbildung in den Leitmedien munter weiter. Die Facharbeitermangel-Lüge, die Lüge, dass "wir alle" älter werden und deshalb länger arbeiten, d.h. dass die Renten gekürzt werden müssten, die BIP-Lüge, die unterschlägt, dass ein Großteil des BIP auf Wachstum durch Schuldenmachen basiert. Die 2 Millionen-Arbeitslosen-Lüge, die die Langzeitarbeitslosen ab 50 Jahren, die Erwerbsunfähigen, die Menschen in "Bildungsmaßnahmen", die Unterbeschäftigten und die Aufstocker unterschlägt, die Gleichstellungslüge. Die trickle-down-Lüge. Die Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Lüge, die allein schon deshalb eine Lüge ist, weil es andernfalls keine derartige Schere zwischen Arm und Reich gäbe. Das Märchen von den Grundrechten, die angeblich für alle Menschen gelten sollen.

Menschen im autoritätshörigen Duckmäuser-Ständestaat Deutschland, die nicht systemkompatibel sind, werden gnadenlos ausgemustert. Sozial vom Freundeskreis und der Familie ausgegrenzt, geschnitten, aus den Vereinen, Parteien, Betrieben und Behörden gemobbt oder pathologisiert. Das geht ganz einfach: Wer kein Facebookprofil mit mindestens 200 "Freunden" hat, dem wird eine Sozialphobie angehängt. Menschen, die sich nicht verbiegen lassen wollen, die einen ungeschminkten Lebenslauf verwenden, die lügen, tricksen, täuschen, blenden, Ausweichen auf Vitamin B als Königsweg für den Aufstieg für moralisch verwerflich halten, die auch ohne Doping ihre Aufgaben 100% erfüllen, haben eine massive Anpassungsstörung. Wer sensibel, empathisch und einfühlsam ist, wird als Mimose und Weichei verachtet: Nur die Harten kommen in den Garten. Wer sozial unauffällig und allein lebt, ist ein potentieller Attentäter. Wer aufbegehrt und die Wahrheit sagt, ist ein Querulant und potentieller Verfassungsfeind. Wer als Hochreflektierter und Hochbegabter die Borniertheit und Mittelmäßigkeit um sich herum verachtet, ist arrogant und größenwahnsinnig. Wer noch an überkommenen Moralvorstellungen festhält, an das Wahre und Gute glaubt, ist dumm und naiv, weltfremd, ein verachtenswerter Moralist, und daher selber schuld, wenn er in dieser Welt scheitert. Wer auf seinen Körper (Körper können nicht lügen) hört und sich wegen psychosomatischer Beschwerden behandeln lassen will, wird - vor allem wenn es sich dabei um eine Frau handelt - als Hypochonder abgestempelt.

Sozialdarwinismus, Chancenungleichheit


Die Benachteiligungen an der Uni, denen die sogenannten Bildungsaufsteiger ausgesetzt sind, wirken sich nicht nur auf die Finanzierung des Lebensunterhalts aus, sondern auch auf andere studienbedingte Notwendig- oder Annehmlichkeiten: Studienreisen und Auslandssemester, Personal Coaches und unbezahlte Praktika (die einen können sich das leisten, die anderen trotz Nebenjobs eben nicht), teure Lehrmittel (die einen müssen sich Fachliteratur über Fernleihe mit wochen- und monatelangen Wartelisten bestellen, die anderen gehen mit einer A4-Bücherliste in den Landen und kaufen sich einfach, was sie brauchen). Vor allem jedoch fehlen die gerade in Rezessionszeiten nötigen Kontakte zu potentiellen Arbeitgebern (das berühmte Vitamin B), die dafür sorgen, dass man nach dem Studium schneller eine Stelle bekommt als die Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Denn was kann beispielsweise ein kleiner Finanzbeamter der mittleren Laufbahn seinem Akademikerkind schon an beruflichen Kontakten vermitteln? Da nützt einem auch kein Prädikatsexamen.

Beim Deutschen Studentenwerk weiß man das alles schon lange.
"Prof. Dr. Dieter Timmermann, der Präsident des Deutschen Studentenwerks, fordert eine politische Initiative zur sozialen Öffnung der deutschen Hochschulen. Er bezieht sich auf die Studie „Bildungsaufstieg?“ des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung, finanziert von der Vodafone-Stiftung. Die Studie zeigt, ebenso wie die regelmäßigen Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks, wie sozial selektiv der Hochschulzugang noch immer ist. Gerade die Studierneigung von Kindern aus bildungsfernen Haushalten ist deutlich gesunken."
Die Autorin Ulrike Herrmann weiß es auch: 
"Wer glaube, dass seine Kinder zur Elite aufrücken könnten, falls sie nur die richtigen Abschlüsse haben, falle "auf den Mythos herein, dass Deutschland eine Leistungsgesellschaft sei", schreibt Herrmann. Die Elite weiß längst, dass Bildung notwendig, aber längst nicht hinreichend ist für Erfolg. Kontakte sind’s."
Kaum irgendwo sonst ist die soziale Durchlässigkeit so gering wie mittlerweile in Deutschland.
"Kinder aus ungelernten Haushalten, die in den Jahren 1950 bis 1959 geboren sind, hatten deutlich bessere Aufstiegschancen als solche, die erst 1980 das Licht der Welt erblickten. „Der Familienhintergrund prägt den eigenen ökonomischen Erfolg“, bilanzieren die DIW-Forscher. 40 Prozent der Ungleichheit im individuellen Arbeitseinkommen lasse sich nach ihren Berechnungen direkt durch den Familienhintergrund erklären." (FAZ, "Soziale Mobilität: Der Aufstieg ist bedroht", 01.04.2013)
Das Bildungswesen wurde in den vergangenen Jahren konsequent durchökonomisiert. Bildung ist eine Investition, sie muss Rendite bringen. Die Wirtschaft entscheidet darüber, welche Inhalte am meisten Profite versprechen. Dazu gehören vorwiegend die MINT-Fächer. Jochen Krautz stellt in seinem Aufsatz "Bildungsreform und Propaganda" fest:
"Gleichheit, Selbstbestimmung, Gemeinschaftlichkeit und gemeinsame Klärung der Sachfragen in bestmöglicher Annäherung an das Richtige sind somit wesentliche Kennzeichen von Demokratie und markieren gleichzeitig die Aufgabe von Bildung und Bildungswesen in einem solchen Staat. Die Gestaltung dieses Bildungswesens kann zudem ebenfalls nur demokratisch verantwortet werden.Nun gehört es zu den bemerkenswerten Vorgängen in den Bildungsreformen der letzten fünfzehn Jahre, dass sie einerseits dieses Verständnis von Bildung wie von Demokratie anders definieren und damit andererseits ein nicht der Verfassung gemäßes Bildungsverständnis durch selbst nicht demokratisch legitimierte Reformmaßnahmen durchgesetzt haben. Im Bildungswesen herrscht insofern in doppelter Hinsicht »Postdemokratie«: Sowohl das Bildungsverständnis selbst wie die Gestaltung des Bildungswesens haben sich immer weiter von einer demokratischen Grundlage entfernt. " (S. 86, zitiert nach: Sonderheft „Demokratie setzt aus“, Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 2012, S. 86-128)
Die Villenbesitzer, die an Seen, in Naherholungsgebieten und Stränden wohnen, haben längst damit angefangen, sich gegen den asozialen Pöbel, d.h. gegen die normale arbeitende Bevölkerung zu mobilisieren, indem sie öffentliche Fußgängerwege sperren lassen oder schlicht von der Stadt aufkaufen, um sie dann als Privatbesitz zu deklarieren.

Folgender Forumskommentar durchschaut das miese Spiel:
Es ärgert mich, wenn auch hier in einzelnen Kommentaren wieder Nach-unten-Vergleiche (Armutsstand Drittweltländer) gezogen werden mit dem Ziel, damit die skandalösen Zustände in D relativieren zu wollen. Es kommen meist dieselben, fast vorhersehbaren Kommentare: z.B. von Männern, die das erhöhte Armutsrisiko von Frauen (Stichwort: gender pay gap, Alleinerziehendenstatus) zu leugnen versuchen, von Gut- und Besserverdienenden, die den Armen vorrechnen und vorhalten, wie "toll" sie doch leben könnten und dass arm sein in Deutschland "überhaupt nicht schlimm" sei. Wer privilegiert ist, versucht, durch solche durchschaubaren "Argumente" seine Position zu verteidigen - so einfach ist das. Und so abstoßend zugleich...

Der Unterschied zwischen der Lebenserwartung der niedrigsten Einkommensgruppen mit dem niedrigsten Sozialstatus zum Bevölkerungsanteil mit den höchsten Einkommen soll in Deutschland mittlerweile 5 Jahre betragen, ich habe aber auch schon mal irgendwo die Zahl 16 (!) Jahre gelesen. Passt doch alles. Läuft doch alles so wie geplant.
"Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Einkommen", sagte Martin Kroh vom DIW. Zwei Gründe könnten dafür verantwortlich sein: dass sich Arme Gesundheitsförderung und -versorgung nicht leisten können oder dass sie einen ungesünderen Lebenswandel haben. Vermutlich ist die Wahrheit eine Mischung aus beidem. (...) Bei armen Männern scheint eine geringere Bildung und höhere körperliche Belastung im Beruf die Lebenszeit zu verkürzen, bei Frauen die psychische Belastung durch Geldnot und weniger soziale Kontakte."
Pensionäre leben u.a. wegen der besseren medizinischen Versorgung als Privatpatienten wesentlich länger als Rentner, und sie kosten deshalb auch am meisten. Dazu die NDR Reportage "Pension schlägt Rente", Sendetermin: Montag, 3. September 2012, 22.00 Uhr:
"Die Dokumentation zeigt weiter, dass Pensionäre auch für die Haushalte der Bundesländer in Deutschland zukünftig ein Riesenproblem darstellen: In den kommenden 15 Jahren werden Abertausende Beamte der höchsten Gehaltsstufen pensioniert. Allerdings sind für diese Kostenlawine kaum Rücklagen gebildet worden. So müssen die Bundesländer die Pensionsverpflichtungen aus laufenden Steuermitteln zahlen und dafür an anderer Stelle massiv sparen."
Tja, liebe Bundesländer dann noch viel Spaß bei der Suche nach neuen Einsparmöglichkeiten.

Tatsache ist, dass der Lebensstandard und vor allem die Aufstiegsmöglichkeiten von vielen Menschen in den sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern größer sind als für die Hartz4-Empfänger in Deutschland. Es ist schwer, in einem armen Land arm zu sein, aber in einem immer wieder gebetsmühlenartig als reich titulierten Land arm zu sein, ist ungleich schwerer, denn hier wird Armut fast immer mit völliger Unfähigkeit gleichgesetzt.

Der Regisseur Konstantin Faigle kommt laut ZEIT online vom 30.04.2013 zu einem ähnlichen Urteil über die heutige Arbeitswelt wie David Graeber mit seiner These von den Bullshit Jobs als Instrument des perfektes Arbeitsregimes.
"Arbeit, so lautet Faigles These, ist zum Religionsersatz im kapitalistischen System geworden. Nur wer Arbeit hat, zählt als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. "Man muss ja froh sein, Arbeit zu haben", heißt es. Selbst Menschen, die ausgesprochen ungern arbeiten, finden Halt daran. Arbeit strukturiert den Tag und gaukelt einen Sinn im Leben vor – obwohl viele Tätigkeiten überhaupt nicht sinnhaft sind. Banker, Versicherungsmakler, Aktienhändler beispielsweise. In einer Gesellschaft, in der vieles über das Geldsystem geregelt wird, sind sie wichtige Akteure. Aber ihre Tätigkeit stiftet keinen Sinn. Und die Menschen, die sie ausüben, sind austauschbar."
Was Christoph Türcke bereits vor fast 30 Jahren in seinem Aufsatz "Gottesgeschenk Arbeit" verdeutlichte, hat nun auch den Weg in die Leitmedien gefunden, unter anderem bei ZEIT online. So stellt Maximilian Probst unter dem Titel "Der Adel der Arbeitslosigkeit" fest: 
"Die Invektiven gegen Hartz-IVler und Plagiatoren sind immer auch ein Sinnstiftungsversuch derjenigen, die uneingestandene Zweifel beschleichen, die heimlich einen Neid nähren gegen die Arbeitslosen und deren Möglichkeit der Muße. Glück ohne Macht, Lohn ohne Arbeit, Titel ohne Mühsal sind verpönt, weil insgeheim verlangt."

Korruption, Nepotismus, Verrohung


Deutschland ist, wenn man Lobbyismus und Vetternwirtschaft als Korruption ansehen will, eines der korruptesten Länder der Welt. Seit Jahrzehnten werden einseitig und wirtschaftshörig Lobbyinteressen bedient. Eines der jüngsten Beispiele ist die Parteispende von BMW-Großaktionären an die CDU. Als kleines Dankeschön für den Widerstand der Bundesregierung gegen höhere EU-Abgasnormen? Lobbyismus pur, völlig offen und unverblümt. Das Geschenk an die CSU folgt ein paar Tage später.

Als Folge befinden sich die Bürger im Würgegriff, den Kapital- und Konzerninteressen weitgehend wehrlos ausgeliefert. Überhöhte Dispogebühren, seit Jahren bekannt, seit Jahren passiert nichts. Probleme beim Providerwechsel oder Stromanbietern: nichts passiert. Belästigung am Telefon durch Abzockanrufe. Updatezwang bei Software. Lebensmittelbetrug (Gammelfleisch, Hühnereier). Falsche Lebensmittelkennzeichnungen. Falsche Bank und Vermögensberatungen, die die Kunden in den Ruin führen. Absichtlich verschleppte Schadensregulierungen von Versicherern und Krankenkassen nach Unfall oder Berufsunfähigkeit, wo ganz klar auf das Ableben des geschädigten Klägers spekuliert wird. Falschberatungen durch Apotheker, Fehlbehandlungen durch Ärzte können einem das Leben kosten. Chemieverseuchte Kleidung (schwarze Farbe) und vergiftete Kosmetik, der Verbraucher als Versuchskaninchen. Manipulierte Wasser- und Gasuhren. Gekaufte Gutachter bei Pfusch am Bau. Manipulierte und überhöhte Rechnungen bei Reparaturen von Autos, Waschmaschinen, Computern. Man könnte sein Leben lang rund um die Uhr gegen diesen allgegenwärtigen Betrug ankämpfen und käme doch nie an ein Ende.

Die Tatsache, dass deutsche Bundesregierungen sich seit 10 Jahren weigern, die UN-Anti-Korruptionskonvention zu unterzeichnen, spricht für sich. In diesem System wird der Verantwortungslose, Inkompetente, moralisch Verkommene belohnt.  Sogar die Vorstände von 35 DAX-Unternehmen sowie Bundestagspräsident Lammers drängen zur Unterzeichnung. Was für ein Armutszeugnis.

Menschen, die sich noch einen Restbestand an Idealismus und Altruismus bewahren konnten, finden in dieser vollständig auf partikuläre Ego-Interessen reduzierten Gesellschaft buchstäblich keine Möglichkeiten mehr, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie ihr Leben in den Dienst einer höheren Sache stellen. Denn überall klebt mittlerweile der Dreck. Natur- und Umweltschutz? Die Verbände sind abhängig von Großsponsoren aus Industrie und Finanzwesen, ebenso wie die vormals freie Wissenschaft, ebenso wie seit Jahrzehnten die politischen Partien. Immer mehr Stiftungen und gemeinnützige Verbände sind nur zum Schein, also aus Steuerspargründen und zur Imagepflege gegründet worden; andere, komplett amoralische Menschen nutzen eine gefakte Gemeinnützigkeit als Deckmantel (Kinderschutz, Tierschutz), als ein lukratives Geschäftsmodell, um Fördergelder vom Steuerzahler und Spendengelder von gutgläubigen Bürgern einzutreiben und dann zu verprassen. Um die Schmuddelkinder dieser Republik - Arme, Arbeitslose, Alte, Kranke, unterprivilegierte Kinder - kümmert sich eine Armutsindustrie: dubiose Arbeitsvermittler, Tafeln, Sozialkaufhäuser, Sozialverbände. Die Abschaffung oder auch nur Verbesserung der Verhältnisse, die ihre Klientel überhaupt erst hervorbringen, liegt nicht in ihrem Interesse, selbst dann nicht, wenn diese mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellen würde

Deutschland befindet sich im Zangengriff einer moralisch verwahrlosten "Elite" und einer intellektuell retardierten Jugend. Wir sind inzwischen so weit, dass die wahren Verfassungsfeinde denjenigen Verfassungsuntreue bis hin zur Verfassungsfeindlichkeit vorwerfen bzw. diese daraufhin verfolgen, bestrafen, aus dem Verkehr ziehen, die treuherzig wie sie nun einmal sind, gerade diese unsere Verfassung retten wollen.

Erst erzeugt das System in seiner Blindheit seine eigenen Feinde, dann wendet es unverhältnismäßig hohe Mittel auf, um diese ruhigzustellen, abzuschießen, wegzusperren. Das ist der Grund, warum sich so viele verzweifelte Bundesbürger in ihrer Not nur noch auf das Bundesverfassungsgericht verlassen wollen, weil jegliches Restvertrauen in die politischen Institutionen erodiert ist. Was sich hier zeigt, ist nichts anderes als die Mentalität von Leibeigenen und Sklaven, die auf Gottes Gnade oder deren Stellvertreter auf Erden hoffen.

"Wer nicht reich ist, ist faul"


Dem Befund von Marcel Malachowski auf Telepolis in seinem Artikel "Eure Armut kotzt uns an!" vom 11.03.2013 ist nichts mehr hinzuzufügen:
"In Gänze betrachtet wirkt es, als hätte die Politik und auch die Mehrheitsgesellschaft die Unterschicht bereits komplett aufgegeben. In großen Teilen Mecklenburg-Vorpommerns gibt es nicht einmal mehr eine funktionierende Infrastruktur: Der ÖPNV wird ausgedünnt, Ärzte schließen ihre Praxen, Banken und Supermärkte ihre Filialen - es ist einfach zu wenig Kaufkraft vorhanden. Im Ruhrgebiet werden mittlerweile ganze Stadtteile abgerissen - kurioserweise dienten die verlassenen Straßen in den letzten Jahren als Drehorte für den ARD-Tatort. (...) Massenhafte und dauerhafte Armut gehört mittlerweile also nicht nur ganz normal zu Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt - sie wird sogar instrumentalisiert, um der Wohlstands-Mittelschicht die Angst einzureden, wie schlimm es doch auch sie treffen könnte, wenn nicht die "alternativlose" Sparpolitik befolgt werde. (...) Der millionenschwere Reeder Peter Krämer sprach einmal in einem Interview davon, dass die Gruppe, die mit Abstand die größte politische Lobby hätte, die Reichen seien. In den letzten Jahren aber ist zudem eine Hetze gegen Arme salonfähig geworden. Der Publizist Matthias Matussek beispielsweise interpretierte den Hype um die ESC-Gewinnerin Lena dergestalt, dass nun endlich die "normalen" Jugendlichen der Mittelschicht aufbegehrten gegen die ständige öffentliche Konzentration auf Problemjugendliche aus Randbezirken. (...) Jegliche kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Zurichtung der Individuen, wie sie Freud, Marx, Benjamin, aber auch die Pop-Kulturen der 70er oder 80er vornahmen, scheint vergessen. In der sozialen Frage gilt vermehrt wieder der Biologismus: oben ist oben, unten ist unten, und so bleibt es für immer. Oder wie es ein chinesischer Milliardär vor kurzem einem "Tagesthemen"-Reporter ins Mikrofon sprach: "Wer nicht reich ist, ist faul." "
2009 formulierte ich für ein Online-Forum folgendes:

"Bei den meisten wirtschaftlichen Kennzahlen schneidet Deutschland schlechter ab als die meisten der alten EU 15-Länder. Sogar innerhalb der 27-EU haben noch x Länder ein höheres BIP pro Kopf, würde man Norwegen und Schweiz mit berücksichtigen, sähe es noch peinlicher aus. Deshalb scheut die Regierung zunehmend EU-Vergleiche wie der Teufel das Weihwasser.
Seit Jahren wird die Regierung von der OECD angemahnt, die Harmonisierung mit europäischen Standards voranzutreiben. Aber die Lobbyisten aus Industrie stellen sich blind und taub. Was genau ist so schwer daran, folgende Kausalkette zu verstehen? Beschäftigungsabbau -> mehr Arbeitslose -> höhere Sozialaus- und abgaben -> Beschäftigungsabbau -> mehr Arbeitslose -> höhere Sozialaus- und abgaben... Auch in anderen Bereichen bildet Deutschland das Schlusslicht, zum Beispiel bei dem katastrophal niedrigen Beschäftigungsanteil Älterer, und folgerichtig der bei weitem höchsten Arbeitslosenquote Älterer. Weiterhin auffällig: Der geringe Anteil der Beschäftigten an beruflicher Weiterbildung, vergleichsweise geringe betriebliche Angebote, und eine skandalös niedrige Frauenerwerbsquote.
Selbstverständlich sieht die Regierung hier keinen Handlungsbedarf. Standardphrase: Das seien nun mal die logischen Konsequenzen der Globalisierung. TINA. Und überhaupt: Ein Vergleich mit anderen Ländern sei wegen unterschiedlicher Steuer- und Sozialversicherungssysteme sowieso nicht möglich. Mir fällt bei diesem Scheinargument bloß immer wieder auf: Bestimmte Regelungen und Standards, die unsere eigenen sogenannten Normalarbeitsverhältnisse und damit die SV-Beitragsbasis und die späteren Rentenansprüche erodieren lassen, werden eifrig aus dem Ausland kopiert, z.B. Lockerung des Kündigungsschutzes, Ausbau von Zeitarbeit, Teilzeit- und Minijobs, Anspruchs- und Leistungskürzungen bei Lohnersatz (ALG). Auf der anderen Seite steht Deutschland im europäischen Vergleich so ziemlich isoliert da mit der sturen Weigerung, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Auch in anderen Punkten ist Deutschlands Wirtschaftspolitik weiterhin arbeitnehmerfeindlich: z.B. Arbeitnehmer ab 45 Jahre weiter zu beschäftigen oder mal endlich für ein transparentes und gerechtes Steuersystem zu sorgen, oder auch leistungslose Kapitaleinkünfte zur Finanzierung des Sozialstaats heranzuziehen und nicht nur einseitig die Arbeitslöhne. Wer profitiert im Wortsinn von dieser selektiven Politik? In keinem Fall der nicht-verbeamtete Normalverdiener. Und die Arbeitslosen erst recht nicht. Denn: der forcierte Einsatz von Leiharbeit z.B. wird immer noch damit gerechtfertigt, dass diese Jobs als Sprungbrett in eine reguläre, dauerhafte und besser bezahlte Beschäftigung dienen. Die Zahlen lassen diesen Schluss nicht zu. Für die deutschen Arbeitnehmer ist Leiharbeit eine Dequalifizierungs-Falle.

Beim Anteil eines Aufstiegs von Niedriglohnjobs in besser bezahlte Jobs steht Deutschland im EU-Vergleich am unteren Ende der Skala. Selbst in Großbritannien, wo der Anteil der Vollzeitbeschäftigten zum Niedriglohnsektor noch höher ist als hier, sind die Aufstiegschancen höher als in Deutschland, stellte eine Studie des Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin bereits 2006 fest.

Man kann sich fragen, inwieweit auch andere politische Weichenstellungen seit Schröder, u.a. arbeitnehmerfeindliche Steuergesetzgebung und Rentenreformen, dafür verantwortlich sind.
Dazu passt eine OECD-Studie von 2009. Ein paar Zitate:
"Deutschland belastet wie kaum ein anderes OECD-Land die Einkommen von Gering- und Durchschnittsverdienern mit Sozialabgaben und Steuern."" Wie in den meisten anderen OECD-Ländern ist in Deutschland 2008 die Steuer- und Abgabenquote leicht gesunken und liegt vor allem für Gutverdienende deutlich unter den Werten des Jahres 2000..""So fallen in Deutschland bei einem Single mit einem Jahresgehalt von rund 63.000 Euro mit 53,7 Prozent die höchsten Abzüge durch Steuern und Sozialbeiträge an. Bei 110.000 Euro Jahresgehalt müssen dagegen nur noch 50 Prozent der Arbeitskosten (Bruttoverdienst plus Sozialbeiträge Arbeitgeber) an Sozialkassen und Staat abgeführt werden. Die Steuer- und Sozialabgabenquote liegt damit wieder auf dem Niveau eines Arbeitnehmers mit 36.500 Euro Jahresgehalt. Hintergrund für diesen Effekt ist die große Bedeutung der Sozialabgaben, die aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen ab einem gewissen Einkommen völlig wegfallen. Würde man auch die Pendlerpauschale und andere an besondere Voraussetzungen geknüpfte Steuerfreibeträge berücksichtigen, wäre die Entlastung am oberen Ende der Einkommensskala noch deutlicher."

Gelenkte Demokratie


Ich habe mich vor Jahren einmal mit meinem Onkel, einem Engländer, über die Protestkultur der Deutschen unterhalten. Er hat deutsche Geschichte und Literatur studiert, er liebt diese Kultur, aber ihm tun die Deutschen wegen ihrer bitteren Erfahrungen als demokratische Nation auch ein wenig leid. Vor allem wegen des Scheiterns der Paulskirchenverfassung. "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht", das Diktum des Biedermeiers, ist heute offenbar wieder auferstanden. Mir kommt es mittlerweile so vor, als ob es völlig egal ist, was wir tun, auf welche Art wir unserer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen - es ist immer verkehrt bzw. kann als "Fehlverhalten" von politischen Interessengruppen instrumentalisiert werden. Wenn die Bürger pflichtschuldig weiter brav den Mund halten, zu Hause hocken bleiben und aus Resignation gar nicht mehr zur Wahl gehen, sind sie verblödet und unpolitisch und verdienen es nicht besser, als "von oben" regiert zu werden. Wenn sie es stattdessen jedoch wagen aufzubegehren und demonstrieren, oder ein Ventil für ihre Wut suchen, Autos und Häuser anzünden, heißt es: Die sind nicht reif für eine Demokratie und wollen entweder Anarchie oder wieder nur einen neuen Führer. Wutbürger. Das ist das Erbe, genauer gesagt der Fluch der jüngeren deutschen Geschichte.

Merkel lässt sich nicht mehr abwählen, und auch sonst keiner der Etablierten. Sie sind psychisch und materiell vollkommen abhängig von ihrer Macht.

Politiker leben - zumindest teilweise - von Steuergeldern. Wo also soll das Geld herkommen, wenn in einem Land ohne Mittelschicht keiner mehr Steuern zahlt? Entweder weil man nichts oder nicht genug verdient, oder soviel, dass man Steuern hinterzieht? Hat man sich in Berlin und in den Landesregierungen darüber eigentlich schon mal Gedanken gemacht? Die Antwort ist klar: Es wird nicht ohne eine Zwangsherrschaft, eine Versklavung der Mehrheit der Normalbürger gehen, die zum Arbeitsdienst und zur Abgabe des Zehnten gezwungen werden. Um eine Massenflucht zu vermeiden, werden alle Grenzen der Republik und der EU dicht gemacht, auch die Küsten. Die notwendigen technischen Instrumente, Non Lethal-Weapons hat man schon. Sie hätten ja lieber den eleganten Weg gewählt über eine EU-Diktatur im Schulterschluss mit den Großbanken und Konzernen, aber das scheint nun nicht mehr zu funktionieren. Putin ist für Merkel das große Vorbild. Gelenkte Demokratie -  ja, nach wie vor darf auf der Mogelpackung Demokratie draufstehen, auch wenn kein einziges Mitglied der Politikerkaste einen Begriff mehr davon hat, was dieses Wort in der Praxis bedeutet. Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Mitbestimmung. 
"Online-Petitionen oder Netzproteste, die auf die Straße schwappen, sieht die Kommission nicht etwa als positives Signal gegen den Politikfrust junger Leute. Sondern als Gefahr für den klassischen Politikerberuf." (SPIEGEL online, "Experten über Abgeordnete: Schlaflos, gehetzt, unterbezahlt", 04.04.2013)
Die sogenannten "Experten", die sich Sorgen um die Bundestagsabgeordneten machen, sind größtenteils Richter und ehemalige Landtags- oder Bundestagsabgeordnete, also Staatsdiener. Noch deutlicher kann man es nicht ausdrücken: Bürger, lasst uns in Ruhe weiter wursteln, bestechen, lügen, abkassieren. Ihr könnt uns mal mit eurer Mitbestimmung.

Die Idee der Aufklärung, die universalen Menschenrechte, die Demokratie waren ein schöner Traum, jetzt ist er definitiv vorbei.



(Geschrieben 2009 und 2012)

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