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Dienstag, 22. Oktober 2013

Kette der Gewalt



"Obwohl wir alle glauben, dass unsere menschliche Art den höchsten Punkt auf der evolutionären Skala darstellt, gibt es einen kritischen Bereich, in dem es uns nicht gelungen ist, uns weiterzuentwickeln, einen Bereich, in dem wir keine Verbesserung gegenüber unseren Vorgängern darstellen. Und dieses Misslingen ist so fundamental, so kritisch, dass unser langfristiges Überleben auf dem Spiel steht. Letzten Endes stellt es eine größere Bedrohung dar als Krieg, Armut, Hunger, Verbrechen, Verbrechen - auch in der Völkermord-Variante - kombiniert. Das fundamentale Misslingen ist dieses: Wir beschützen und bewahren nicht die Unseren. Unser Begriff von der menschlichen "Familie" als dem Schutzwächter unserer Art hat sich nicht weiterentwickelt. Anstelle dessen ist er in die entgegengesetzte Richtung gegangen - er hat sich zurückentwickelt."
Andrew Vachss, Unsere gefährdete Art, 1998




Hochwasser
Andrew Vachss ist ein US-amerikanischer Rechtsanwalt, der ausschließlich Kinder und Jugendliche in Gerichtsverfahren vertritt. Außerdem ist er Krimiautor und greift das Thema Gewalt gegen Kinder - Vernachlässigung, Misshandlung, sexuelle Gewalt - auch in seinen Romanen auf. Bislang habe ich noch nirgendwo, erst recht nicht im deutschsprachigen Raum, vergleichbare Texte wie die von Andrew Vachss gelesen, Texte, die derart klar und kompromisslos für die Rechte der Kinder Partei ergreifen und von einem derart tiefem Verständnis für die schwerwiegenden Folgen emotionaler Misshandlung zeugen.




Emotionale Misshandlung


Zum Einstieg ein Zitat von Andrew Vachss' Homepage:
"Meine Antwort ist, dass von all den vielen Formen von Kindesmisshandlung, emotionale Misshandlung die grausamste und am längsten währende von allen sein mag. Emotionale Misshandlung ist die systematische Verkleinerung des anderen. Sie kann absichtlich oder unterbewusst (oder beides) sein, aber sie ist immer eine Verhaltensweise, nicht ein einzelner Vorfall. Sie ist darauf angelegt, das Selbstbild eines Kindes auf den Punkt zu reduzieren, wo das Opfer sich des natürlichen Geburtsrechts aller Kinder für unwert erachtet: Liebe und Schutz. (...) Emotionale Misshandlung kann verbal oder im Verhalten, aktiv oder passiv, regelmäßig oder gelegentlich stattfinden. Ungeachtet dessen ist sie oft ebenso schmerzhaft wie ein körperlicher Angriff. Und, mit seltenen Ausnahmen, dauert der Schmerz viel länger an. Die Liebe eines Elternteils ist für ein Kind so wichtig, dass sie ihm vorzuenthalten einen Zustand des "Scheiterns in der Entwicklung" verursachen kann, ähnlich dem von Kindern, denen man eine angemessene Ernährung verweigert hat. Selbst der natürliche Trost von Geschwistern wird denjenigen Opfern emotionaler Misshandlung verweigert, die als das "Zielscheiben-Kind" der Familie ausersehen sind. Die anderen Kinder sind schnell dabei, ihre Eltern zu imitieren. Anstatt die Fähigkeiten zu erlernen, die jedes Kind als ein Erwachsener brauchen wird - Einfühlungsvermögen, Fürsorglichkeit und Beschützen - lernen sie die Boshaftigkeit einer Hackordnung. Und so setzt sich der Kreislauf fort. (...) Emotionale Misshandlung ist sowohl die verbreitetste als auch die am wenigsten verstandene Form von Kindesmisshandlung. Über ihre Opfer wird oft hinweggesehen, einfach, weil ihre Wunden nicht sichtbar sind. In einem Zeitalter, in welchem neue Enthüllungen von unaussprechlichen Kindesmisshandlungen tägliche Kost sind, werden Schmerz und Qual jener, die "nur" emotionale Misshandlung erfahren haben, oft trivialisiert. Wir verstehen und akzeptieren, dass die Opfer von körperlicher und sexueller Misshandlung gleichermaßen Zeit wie eine spezielle Behandlung brauchen, um zu gesunden. Doch wenn es zu emotionaler Misshandlung kommt, glauben wir anscheinend, dass die Opfer "einfach darüber hinwegkommen", wenn sie Erwachsene werden. (...) Der Misshandler hat kein "Recht" auf Vergebung - solche Wohltaten können nur verdient werden. Und obwohl der Schaden mit Worten angerichtet wurde, kann echte Vergebung nur mit Taten verdient werden. (...) Emotionale Misshandlung droht eine nationale Krankheit zu werden. Die Popularität gehässiger, niedrig gesinnter, persönlich angreifender Grausamkeit, die als "Unterhaltung" durchgeht, ist nur ein Beispiel. Wenn die Gesellschaft inmitten einer moralischen und geistigen Erosion ist, wird eine "Familie," die auf der emotionalen Misshandlung ihrer Kinder gegründet ist, nicht die Stellung halten. Und es zeigen sich keine unmittelbaren Anzeichen, dass das Blatt sich wendet. (...)"(Andrew Vachss, "Du trägst das Heilmittel in deinem Herzen", 1994)
Dieser Text wurde von Vachss 1994 publiziert, das war vor fast 20 Jahren. Was müssen sich Patienten in Deutschland immer noch allzu häufig von ihren Therapeuten anhören? Dass sie ihren Missbrauchern verzeihen sollten. Verzeihung sei der Königsweg zur Heilung. Diese Täterschutz-Fehlhaltung zusammen mit der fast vollständigen Abstinenz klarer Positionierung im Hinblick auf emotionalen Missbrauch, einer klaren Verurteilung des oder der Täter, lässt für mich nur den Schluss zu, dass die deutsche Psychiatrie- und Therapeutenausbildung hoffnungslos rückständig ist, und/oder dass die Studenten keine englischsprachigen Studien zur Kenntnis nehmen, und/oder dass die behandelnden Ärzte und Therapeuten selber Missbraucher sind oder waren.


Das Vergebungsdogma ist ein Täterschutzdogma. Das gedemütigte, verletzte Kind soll auf  immer das gedemütigte, verletzte Kind bleiben. Opfer bleiben ist billiger und bequemer für den Staat. Die Schuld und Eigenverantwortung des Täters wird auf das Opfer abgeladen. Verwurzelt ist diese Haltung möglicherweise im Christentum, im Ablasshandel, im "du sollst Vater und Mutter ehren", "liebet eure Feinde wie euch selbst". Für die Missbraucher- und Täterlobby aus Justiz, Medizin, Therapeuten, Kirche sind Kinder und Frauen – die größte Opfergruppe - Freiwild, lebenslange Opfer, denen sich die Täter bedienen, als ob die Opfer keine Rechte hätten. Die Vergebung des Opfers dient dem Status quo, dem Machterhalt der Täter, der patriarchalen Unterwerfungs-Ideologie, sie schont auch das Umfeld des Täters, das sich dann nicht weiter mit der Tat auseinandersetzen, keine Position beziehen muss. Mit dem Vergeben und Vergessen sollen Opfer zum Schweigen gebracht werden.
"Einer tiefgreifenden Heilung aber steht die Vergebung im Wege, denn sie bedeutet eine Wiederholung des Traumas, weil durch die Vergebung genau die Machtverhältnisse wiederhergestellt werden, die während der Tat gegeben waren: ein/e Täter_in, der/die nicht belangt wird und kein schlechtes Gewissen haben muss und ein ohnmächtiges, schweigendes Opfer." (www.netzwerkb.org, "Mythos der Vergebung")
Neurologische Studien und Tierversuche belegen eindeutig, dass ein gestörter Hirn- und Hormonstoffwechsel die Folge eines erlittenen Traumas darstellt, während die orthodoxe Psychiatrie immer noch beharrlich an dem Glauben festhält, dass ein Ungleichgewicht im Hirnstoffwechsel die Ursache für psychische Störungen sei.

Die ebenfalls US-amerikanische Psychologin Susan Forward listet in ihrem Buch "Vergiftete Kindheit" (dt. Goldmann, 1993, S. 41) folgende Elternpflichten auf:

  1. Sie müssen für die körperlichen Bedürfnisse des Kindes sorgen
  2. Sie müssen das Kind vor körperlichen Schäden bewahren
  3. Sie müssen die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Beachtung und Zuwendung erfüllen
  4. Sie müssen das Kind vor emotionalen Schäden bewahren
  5. Sie müssen den Kindern moralische und ethische Leitlinien geben 
Forward's Erfahrung nach schaffen "giftige" Eltern es höchstens, für die körperlichen Bedürfnisse zu sorgen, und manchmal noch nicht einmal das. Diese fünf Pflichten sind meiner Ansicht nach die Minimalanforderungen für jede Elternschaft. Wer meint, diese nicht erfüllen zu können oder es nicht nötig zu haben, sollte keine Kinder in die Welt setzen. Und selbstverständlich fordert auch Susan Forward keine Vergebung von ihren Patienten, sondern unterstützt sie im Gegenteil dabei, die Täter mit deren Missbrauch und dessen Folgen zu konfrontieren.

Unter emotionalem Missbrauch und psychischer Gewalt ist folgendes zu verstehen: Herabsetzungen, Demütigungen, Spott, Beleidigungen, abwertende Spitznamen, Kommunikationsverweigerung, Verweigerung von liebevollem Körperkontakt, Entzug von Aufmerksamkeit, Bevorzugen anderer Geschwister und Sündenbockstellung eines einzelnen Kindes, Ironie, Sarkasmus, Anlügen, Anbrüllen, Drohungen, Einschüchterungen (wenn ihr nicht artig seid, kommt ihr ins Kinderheim), Aussperren, Einsperren, verächtliche Blicke oder Gesten, Infragestellen und Negieren kindlicher Gefühle und Erwartungen (Stell dich nicht so an; als ich in deinem Alter war, hätte man mir das nicht erlaubt; das ist doch kein Grund zu Heulen; ich arbeite doch nicht für euer Taschengeld, damit ihr euch davon so einen Mist kauft). Im weiteren Sinne gehört dazu das extrem destruktive, manipulative Verhaltensrepertoire narzisstischer oder psychopathischer Eltern, die in dem Blog "Töchter narzisstischer Mütter" detailliert aufgeführt sind. Desweiteren die Umkehrung der Eltern-Kind-Rollenverteilung, die Parentifizierung, wenn bedürftige, auf dem kindlichem Niveau stecken gebliebene Eltern von ihrem Kind Liebe und Zuwendung einfordern, wenn also das Kind sich um seine Eltern kümmern soll und ihm die Verantwortung für deren Wohlergehen aufgeladen wird. Dies ist häufig der Fall bei Familien mit einem alkohol- oder drogensüchtigen Elternteil. Auch bei Scheidungen instrumentalisieren Eltern häufig ihre Kinder, missbrauchen sie als Vermittler, um den Kontakt zur anderen Partei zu kontrollieren oder aufrechtzuerhalten. Mütter oder Väter machen ihr Kind zum Verbündeten gegen den anderen Ehepartner, klagen dem Kind ihr Leid, lassen sich von ihm trösten - auch dies ist eine Umkehrung der Eltern-Kind-Rollen mit verheerenden Folgen für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung. Im Handbuch „Kindeswohlgefährdung“ wird Parentifizierung als eine Form psychischer Kindesmisshandlung eingestuft.

Die Forschung zu diesem Thema in Deutschland ist skandalös unterentwickelt. In seinem Aufsatz "Psychische Gewalt in der Familie" konstatiert der Soziologe und Pädagoge Lothar Krappmann:
"Aus Sicht von Kinderpsychologen und Sozialwissenschaftlern ist das Gebiet der emotionalen und psychologischen Folter nahezu unerforscht, wie Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) betont: "Bei psychischen Misshandlung liegen mit Abstand die wenigsten Informationen über Folgen für betroffene Kinder vor, zumindest wenn Fälle betrachtet werden, in denen psychische Misshandlung als einzige Form auftritt oder stark im Vordergrund steht. (...) In der heutigen Kinderwelt entsteht die zukünftige Erwachsenenwelt. Die nächste Erwachsenengeneration wird nicht nur die Last der Haushaltsschulden zu tragen haben, die von der heutigen Generation angesammelt werden, sondern wird auch mit den Verletzungen leben müssen, die ihren Mitgliedern in ihrer Kindheit physisch und psychisch geschlagen werden."
Kinder haben in der deutschen Lobbykratie keine Stimme, keinen kompromiss- und gnadenlosen Anwalt wie Andrew Vachss. Kinder müssen und dürfen erwarten können, dass ihre Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit von den Eltern und anderen erwachsenen Bezugspersonen erfüllt werden. Kinder, die emotional und körperlich missbraucht und vernachlässigt wurden, haben diese Erfahrung nie machen dürfen. Sie sind buchstäblich im Feindesland aufgewachsen.


Zahlen


Laut einem Bericht auf ZEIT online vom 29.07.2013 "war das Wohl 2012 von etwa einem Drittel (38.000 Kindern und Jugendlichen) wegen Misshandlungen in Gefahr, in 17.000 Fällen war die Bedrohung akut. Bei allen Kindern, bei denen eine solche akute oder latente Gefährdung vorlag, wiesen
  • zwei Drittel Anzeichen von Vernachlässigung auf. 
  • In 26 Prozent der Fälle gab es Hinweise für psychische Misshandlung. 
  • Knapp ein Viertel der Kinder zeigte Zeichen körperlicher Misshandlung. 
  • Fünf Prozent der Kinder wurden Oper sexueller Gewalt.
(...) Je jünger die Kinder sind, desto mehr sind betroffen. Jedes vierte war jünger als drei Jahre, jedes fünfte im Kindergartenalter. Der Anteil Jugendlicher betrug 15 Prozent."

Man muss davon ausgehen, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist. Dass deutsche Jugendämter solche Daten erst seit 2012 systematisch erheben, ist ein Skandal. Das Bundeskriminalamt informierte am 29.05.2012 in der Tagesschau darüber, dass in Deutschland jede Woche durchschnittlich drei Kinder durch Gewalt oder Vernachlässigung getötet werden. Die Zahl der körperlichen Misshandlungen gehe laut Statistik zwar zurück - die Zahl der angezeigten und aufgedeckten Misshandlungen, wohlgemerkt -, es bleiben aber immer noch im Schnitt elf körperlich misshandelte Kinder pro Tag. Der sexuelle Missbrauch hat um 4% zugenommen - mehr als 14.000 Kinder im Jahr 2011.


Vernachlässigung und Sündenbock


In dysfunktionalen, gestörten Familien "sind die Eltern mit der Erziehungsarbeit überfordert, und von den Kindern wird erwartet, dass sie die Eltern glücklich machen, zumindest aber problemlos „funktionieren“, um das fragile familiäre System nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Besonders Kinder, die auf solch eine Überforderung mit der bedingungslosen Anpassung an die familiären Bedürfnisse reagieren, sind später depressionsgefährdet. Als handlungsleitendes Motiv kann nun das ständige Erfüllen von Erwartungen entstehen." (Zitat aus der Wikipedia, "Depression") 

Kinder, die in derart gestörten Familien aufwachsen, in denen persönliche Angriffe, destruktives Verhalten, Kommunikationsstörungen, Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung sind, gelangen oft zu der Überzeugung, das sei "normal" und in anderen Familien auch so. Sie erhalten ein falsches oder gar kein Geschlechterrollenvorbild, da die eigenen Eltern in dieser Hinsicht versagt haben. Schlechte Voraussetzungen für eine gute Familie und Elternschaft sind z.B. ungewollte Schwangerschaften, das Motiv, mit der Heirat aus einer als repressiv empfundenen Ursprungsfamilie zu fliehen, oder die Ablehnung der Vater- oder Mutterrolle.


Auch Vernachlässigung und Deprivation ist eine Form der Gewalt gegen Kinder: Wenn Eltern ihren Kindern gegenüber gleichgültig und desinteressiert sind, sich kaum um sie kümmern und sie sich meist selber überlassen, vernachlässigen sie ihre Kinder, meist zugunsten ihrer eigenen Bedürfnisse. Solche Eltern sehen Kinder als Störenfried, als Hindernis für die eigene Selbstverwirklichung oder als Konkurrent um die Liebe des Partners. Sie geben ihren Kindern nur wenig oder gar keine Zuwendung, Wärme und Zärtlichkeit, stehen als Vertrauensperson nicht zur Verfügung, verweigern ihren Kindern sogar ärztliche Behandlung, Nahrung, Körperpflege. Vernachlässigte Kinder fühlen sich verlassen, isoliert, abgelehnt, ungeliebt. Die Vernachlässigung stellt lt. Deutschem Ärzteblatt 13/2010 die am häufigsten vorkommende Kindesmisshandlung mit den gravierendsten langfristigen Auswirkungen dar. Der Flachbildschirm, das Laptop, das iPhone, die Markenklamotten im Kinderzimmer sind kein Ersatz für Liebe und Zuwendung.

Besonders gefährlich für das Kindswohl und prädestiniert für Gewalt an Kindern sind Familien mit psychisch kranken oder suchtkranken Eltern, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind oder in denen beide Eltern sehr viel und lange arbeiten, Familien, die wenig oder gar keine außerfamiliären sozialen Kontakte haben, d.h. sozial isoliert sind, und Alleinerziehende. Speziell dysfunktionale Familien etablieren häufig einen Sündenbock, an dem die anderen Familienmitglieder ihre Defizite abreagieren. Diese Familien sind darauf angewiesen, den Sündenbock in ihrer Nähe und unter Kontrolle zu halten, um das fragile Kräftegleichgewicht und ihren Selbstbetrug, die Fassade von der "normalen" Familie weiter aufrecht erhalten zu können.
"In vielen Familien wird ein Mitglied zum Sündenbock und für alle Konflikte und Krisen verantwortlich gemacht. Jedoch mögen sich die anderen auch an ihm für Entbehrungen rächen, unter denen sie in ihrer Herkunftsfamilie litten, können sie aktuelle Spannungen an ihm abreagieren, unter denen sie z. B. an ihrem Arbeitsplatz stehen, oder können ihre Aggressionen, Ängste, Depressionen usw. in es hineinprojizieren. Oft machen sie es zum Sündenbock, wenn sie sich durch seine Selbstdifferenzierungsbestrebungen oder individuellen Charakteristika bedroht fühlen. Manchmal muß es auch einen unterdrückten Konflikt ausagieren und wird dann dafür bestraft. In all diesen Fällen vermeiden die anderen Familienmitglieder die Auseinandersetzung mit ihren Problemen und Konflikten. Statt dessen benutzen sie den Sündenbock als Ventil für Spannungen und stabilisieren auf diese Weise ihre Persönlichkeit und ihre Beziehungen. Dadurch verhindern sie aber auch die Konfliktlösung, ihre eigene Weiterentwicklung und die Anpassung des Familiensystems an neue Gegebenheiten. Vor allem leidet aber die Entwicklung und Selbstdifferenzierung des Sündenbocks. Er fühlt sich ungeliebt, zurückgewiesen und ungerecht behandelt, erlebt sich als Störenfried oder Bösewicht und entwickelt negative Selbstwertgefühle. Oft wird er psychisch krank oder verhaltensgestört." (Martin R. Textor, "Gestörte Familienstrukturen und -prozesse", in: Martin R. Textor (Hrsg.): Hilfen für Familien. Ein Handbuch für psychosoziale Berufe. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992, S. 65-90)
Jeder, der mit Opfern zu tun hat, die sowohl körperlichen (oder sexuellen) Missbrauch als auch emotionalen (psychologischen) Missbrauch erleiden mussten, wird feststellen, dass letzterer sich wesentlich schadvoller und längerfristiger auf das weitere Leben der Opfer auswirkt. Der psychologische Aspekt bei körperlicher Misshandlung ist im Normalfall das, was besonders destruktive Folgen verursacht. Während körperliche Verletzungen verheilen, bleibt die Seele beschädigt. Je jünger die Kinder, desto verheerender die Folgen von Gewalt. Statistiken zeigen, dass umso mehr Kinder von Gewalt betroffen sind, je jünger sie sind. Das Kalkül dieser missbrauchenden und gewalttätigen Eltern ist offenkundig: Körperliche und psychische Gewalt wird besonders gegenüber Säuglingen und Kleinkindern ausgeübt, in einem Alter, wo das Macht- und Hierarchiegefälle am größten ist, weil der Täter meint, er könne sich hier straflos ausagieren. Das Ding – für solche Väter und Mütter sind Kinder nichts anderes als ein Ding - ist ja noch zu klein, um sich später zu erinnern. Zu klein, um sich zu wehren, mit Worten, mit Flucht, mit Gegenaggression. Das hinterlässt ja keine Spuren. Das sind natürlich reine Täterschutzbehauptungen. Es lässt sich kein menschliches Verhalten denken, das gemeiner, feiger und niederträchtiger wäre als Gewalt gegen ein Kleinkind, und keine Gewalt hat schlimmere traumatischere Folgen als die gegen ein Kleinkind.

In dem absolut fantastischen Blog zum Thema "Kriegsursachen, destruktive Politik und Kindheit" werden konkrete Folgeschäden von emotionalem und körperlichem Missbrauch durch Eltern, Pflegeeltern und anderen Bezugspersonen aufgeführt:
"Verlust von Urvertrauen/innerer Zuversicht, Beeinträchtigung der Bindungsfähigkeit und ungünstiger Bindungsstil, Probleme in sozialen Beziehungen bzw. Probleme beim Lösen sozialer Konfliktsituationen, sozialer Rückzug, erhöhtes Risiko für verschiedene Störungen (Ängste, Zwänge, Depression, Störung des Sozialverhaltens, Suizidalität/Todessehnsucht, diverses Suchtverhalten) bzw. Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen, geringes Selbstvertrauen, negatives Selbstbild/gestörte Selbstwahrnehmung, Identitätsprobleme, Minderwertigkeitsgefühle, Überanpassung, Vermeidungs- und Fluchtverhalten, ständiges Misstrauen, selbstverletzendes Verhalten, psychosomatische Störungen, aggressive Verhaltensstörungen, Gewaltverhalten, erhöhte Akzeptanz von Gewalt als Konfliktlösung, fehlende Frustrationstoleranz, Missachtung emotionaler Grundbedürfnisse anderer, geringere Empathiefähigkeit; Unfähigkeit, eigene Grenzen wahrzunehmen und auch anderen deutlich aufzuzeigen; Übernahme der Opferrolle, Posttraumatische  Belastungsstörungen, psychische Abspaltung von gewaltvollen Erlebnissen und entsprechenden Gefühlen, Prostitution, Entwicklung von Schuldgefühlen, Schlafstörungen, Albträume, Konzentrationsstörungen, chronische körperliche Krankheiten, „eingefrorene“ Mimik und Gefühlslage usw."
Der Autor des Blogs vertritt die These, dass Gewalt gegen Kinder weltweit nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel ist, und dass diese Gewalt schwerwiegende und langfristige Folgen hat, u.a. nicht nur individualpsychologisch, sondern auch ökonomisch und politisch. Andrew Vachss würde das mit Sicherheit genauso sehen. Welche Konsequenzen ergeben sich zwingend daraus? Knapp und treffend stellt Vachss fest: "Der Schutz der Kinder von heute bedeutet den Schutz der Gesellschaft von morgen." Und: "Wir müssen die Misshandlung eines Kindes als einen Angriff auf (und eine Bedrohung für) unser Überleben auffassen. Und wir müssen das Verhalten unserer tierischen Vorfahren nachvollziehen und so antworten wie sie es taten - oder darin versagen und verschwinden wie einige von ihnen es taten. Für immer."

Das schwächste Glied in der gesellschaftlichen Hackordnung ist immer das Kind. Wer sich ein Bild machen möchte über die Grausamkeit und Unmenschlichkeit von "Erziehungspraktiken" früherer Zeiten, sollte sich die Auflistung historischer Kindesmisshandlungen ansehen - ein durchaus plausibler Erklärungsansatz für die Jahrtausende währende Kette der Gewalt von Menschen gegen Menschen.


Gewalt gegen Kinder weltweit


Man muss sich einfach nur die Statistiken von UNICEF oder anderen Kinderschutzorganisationen über das Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in den Ländern der Erde ansehen und sich die geografische Lage dieser Länder vergegenwärtigen. Wenn man z.B. die Zahlen zu Gewalt gegen Kinder in Afrika zur Kenntnis nimmt, wundert man sich nicht mehr darüber, warum die Bevölkerung dieses Kontinent gebrochen, traumatisiert ist, aus den Stammeskriegen und der Gewaltspirale nicht herauskommt. Ein anderes Beispiel ist Ägypten. Laut UNICEF „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“ erlebten 92% Prozent der ägyptischen Kinder (2- bis 14-Jährige) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte). Und was die sogenannten westlichen Demokratien betrifft: Vor allem im sogenannten "Bible Belt" in den USA wird Prügelstrafe heute noch praktiziert.

Kindesmisshandlung ist eine Straftat - allerdings noch nicht sehr lange, auch und besonders in unserem freiheitlichen Rechtsstaat nicht. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde das Schlagen von Kindern in Schulen bereits 1949 verboten, in der Bundesrepublik Deutschland erst 1973. Bis in die 70er Jahre hinein waren Körperstrafen bei Kindern die wohl häufigste "Erziehungsmethode"Und erst im Jahr 2000 (!) wurde durch eine Gesetzesänderung das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft. Seitdem sind in Deutschland endlich alle Körperstrafen in der Kindererziehung verboten. Das "Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung" wurde am 6. Juli 2000 vom deutschen Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion (!!) verabschiedet. Es beinhaltet eine Neufassung des § 1631 BGB. Darin wird das Recht auf gewaltfreie Erziehung verankert. 1631 BGB Absatz 2 wird darin wie folgt gefasst:

§ 1631
Inhalt und Grenzen der Personensorge

(1) Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
(3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.

Die historische Entwicklung zum gesetzlichen Verbot von Prügelstrafen, in Schulen und in der Familie zeigt, welch ein zäher Kampf gegen religiös motivierte Interessengruppen, gegen Pädagogen- und Elternverbände geführt werden musste. Wer Gewalt gegen Kinder rechtfertigt, ist selber geschlagen und seelisch deformiert worden. Das für den eigenen, erlittenen Schmerz blinde "Das hat mir auch nicht geschadet" soll verdecken, dass der vormals Geprügelte nicht in der Lage ist, diesen Schmerz, ein ungeliebtes Kind gewesen zu sein, zu fühlen, zu verurteilen als das, was er ist: Zeichen der Lieblosigkeit, des Sadismus, Zeichen des elterlichen Versagens.

In den USA sind Gesetzesinitiativen zum Verbot der Prügelstrafe immer wieder gescheitert, unter anderem am Widerstand von ElterninitiativenBesonders in konservativen christlichen Kreisen, etwa bei den Evangelikalen oder auch im traditionalistischen Katholizismus wird nach wie vor ein vorsätzliches und als Disziplinierungs- und Strafmaßnahme eingesetztes elterliches Züchtigungsrecht verteidigt. Man beruft  sich dabei auf alt- und neutestamentarische Gebote. Einen schockierenden Blick hinter die Kulissen eines bigott-katholischen Elternhauses bietet der autobiografische Roman von Andreas Altmann "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend". "Der Elternratgeber "To train up a child" ist ein Bestseller unter Amerikas Evangelikalen. Er empfiehlt den Einsatz von Rute und Schlagstock zur Erziehung, selbst bei Babys - und stand bei mehreren Eltern zu Tode geprügelter Kinder im Bücherschrank," berichtet die International Business Times am 09.11.2011. Über einen spektakulären Fall von Kindesmisshandlung bei christlichen Fundamentalisten berichtete u.a. der SPIEGEL am 27.09.2013: 
"Nur einmal hat er sich von ihnen zum Essen einladen lassen. Neben ihm saßen Männer mit Bärten und Frauen mit wallenden Röcken. Und Kinder, viele Kinder. "Ich dachte", sagt der Mann, "die Kinder seien aus Wachs. Sie rührten sich nicht." Mehrmals am Abend führten Männer Kinder aus dem Raum, so erzählt er es, in der Hand einen kleinen Stock. Danach besuchte er die umstrittene Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" nie wieder. Er hielt es nicht aus, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte. (...) Bei diesem Treffen fragte ein Teilnehmer, ab welchem Alter sie ihre Kinder disziplinieren würden. "Wenn du wartest, bis das Kind in der Lage ist, etwas zu begründen, dann hast du zu lang gewartet", antwortete ein Sektenmitglied. "Auch kleine Babys haben eine verdorbene Seite und müssen diszipliniert werden." Die Kinder seien verloren, wenn man sie nicht "angemessen schlagen" würde."
Die gesellschaftlichen Ursachen der deutschen Destruktivität, die zum Zweiten Weltkrieg führte, sehen Forscher der Psychohistorie wie etwa Lloyd DeMause in den damals vorherrschenden Erziehungspraktiken - ein Beleg für die These, dass Kindesmisshandlung konkrete politische Folgen haben können. Im Blog "Kriegsursachen" heißt es dazu: 
"DeMause (2005) meint: „(...) wenn man festhält, dass die deutsche Kindheit um 1900 ein Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen war, dann ist die Wiederaufführung dieses Alptraums vier Jahrzehnte später im Holocaust und im Zweiten Weltkrieg letztlich zu verstehen.“ (deMause, 2005, S. 140) Er weist an Hand einer Fülle von Datenmaterial auch nach, dass die Gewalt und Vernachlässigung von Kindern im Deutschland um die Jahrhundertwende im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten um einiges erheblicher war. Das Motto deutscher Eltern gegen Ende des 19..Jahrhunderts wäre simpel gewesen: „Kinder können nie genug geschlagen werden.“ Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Deutschland 89 % aller Kinder geschlagen, über die Hälfte mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. ebd., S. 146ff) Die deutschen Kinder waren persönliche Sklaven ihrer Eltern. „Die strafende Atmosphäre deutscher Haushalte war so umfassend, dass man mit Überzeugung sagen kann, der Totalitarismus in den Familien führte zum Totalitarismus in der Politik.“ (ebd., S. 148)"
Der Ursprung alles Bösen liegt in der Familie, die Wurzel allen Übels liegt in der entrechteten Kindheit. Die Verleugnung kindlichen Leids führt zur Übertragung auf externe Hassobjekte: Das Andere, Fremde, andere Religionen, andere Völker, nicht zuletzt die eigenen Kinder, die einem hilflos ausgeliefert sind. Eigene Kinder sind für den Erwachsenen mit Kindheitstrauma die größte Chance, das erlittene Unrecht an sich selber zu heilen - oder die größte Versuchung, es weiter zu vererben. Gewalterfahrung wird in der Regel vererbt, Kindheitstraumata werden transgenerational weitergegeben, eine im Prinzip unendliche Kette. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder ist ein Gradmesser für den Reifezustand einer Gesellschaft. Eltern, die die Hilfsbedürftigkeit ihrer Kinder ausnutzen, um sie als Sündenböcke zu missbrauchen, als Blitzableiter für eigenen erlittenen Frust, für Wut und Ohnmachtsgefühle, weil Kinder - im Gegensatz zu Erwachsenen – dieser elterlichen Gewalt wehrlos ausgeliefert sind, müssen als unreif betrachtet werden, sind selber auf dem Entwicklungsniveau eines Kindes stecken geblieben. Sehr deutlich und unmissverständlich wird dies im folgenden Zitat ausgesprochen:
"Herabwürdigung, Sarkasmen, Grobheit selbst gegenüber kleinen Kindern gelten häufig noch als „normal“. Denn Minderjährige, die sich ihrer Rechte nicht bewusst sind, die nicht über den Kosmos der Familie hinausschauen können, eignen sich gut als Blitzableiter der Erwachsenen, je kleiner sie sind, desto besser. An ihnen lassen sich Frustrationen, Ärger, Stress abreagieren, hier kann man anraunzen, losbrüllen, zuschlagen, ohne dass es, wie unter Erwachsenen, Konsequenzen hätte. Daher motiviert nicht nur die gern zitierte „Hilflosigkeit“ das brutalisierte Verhalten, sondern auch seelische Bequemlichkeit oder schlicht Grausamkeit – so sehr man den „Stress“ den gesellschaftlichen Umständen, den Karrieren oder der Arbeitslosigkeit, zurechnen mag. Nichts entschuldigt die Vergehen: Sie sind Symptome einer seelisch unreifen Gesellschaft. Den wirksamen Willen zur Aufklärung über Sinn und Inhalt des Gesetzes zum Schutz der Kinder vor Gewalt, das wird mit der Studie erneut deutlich, gilt es erst zu wecken." (Tagesspiegel, "Gewalt gegen Kinder: Mehr als nur ein Klaps", 17.03.2012)
"Wir", so Pola Kinski, "haben alle auf eine Weise lebenslänglich." Genauso ist es. Ein zerstörtes Leben. Nie hatten missbrauchte Kinder die Chance, so etwas wie ein gesundes Selbstbild zu entwickeln. Das Leben als lebenslängliche Strafe für die himmelschreiende Ungerechtigkeit, als unschuldiges Kind, für das elterliche Liebe überlebenswichtig ist, einem Unmenschen ausgeliefert gewesen zu sein. Das Reinwaschen der Eltern-Täter - Das Opfer ist selber schuld an dem, was seine Eltern an ihm verbrochen haben - ist ein typisches Repressionsmuster bei Psychotherapeuten, die den traumatisierten Patienten dazu bringen wollen, seinen Eltern nachträglich zu vergeben, weil angeblich nur so ein "befreiender" Heilungsprozess stattfinden kann – weil sie selber ihr eigenes verdrängtes Trauma nicht verarbeiten können, weil sie selber weiterhin in ihrer ohnmächtigen schmerzbehafteten Kindrolle gefangen sind und die aufgezwungene Eltern-Idealisierung nicht aufgeben können. Diese Opferbeschuldigung ist grundfalsch und im Hinblick auf die internationale Forschung und therapeutische Praxis rückständig. Das Einzige, was wirklich befreit, ist die Erkenntnis über die maßlose Ungerechtigkeit und die daraufhin einsetzenden "bösen", wahren Gefühle, die man als  Kind unterdrücken musste, der echte, authentische, ungehemmte Hass, die Wut, der berechtigte Zorn über die Misshandlungen und die Missachtung, egal ob körperlich oder seelisch, egal, von welcher Seite, vom Vater oder Mutter.

Die Gewalt, die man austeilt – und vor allem und besonders die gegen Kinder – kommt in jedem Fall zurück. Sie bleibt nie ohne Folgen. Sei es durch reaktiven Hass gegen die Eltern  - leider viel zu selten -, sei es durch Gewalt gegen die eigenen Kinder - leider viel zu häufig -, sei es gegen die Ehefrau, gegen die bösen Frauen, gegen den Ehemann, die bösen Männer schlechthin, sei es durch passiv-aggressive Verweigerung gegenüber jeglichen Anforderungen der Gesellschaft (Schule, Ausbildungsbetrieb, Job), sei es durch Drogenkonsum, Kriminalität, sei es durch psychische Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen - Narzissmus, Psycho- und Soziopathie, Depression -, die einen lebenslang daran hindern, ein erfülltes selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Kosten für das Versagen der Eltern zahlen wir alle.

In der immer noch unverdrossen geäußerten Überzeugung, es ginge gerecht zu im deutschen Bildungssystem, es bekämen alle dieselben Chancen, manifestiert sich die unfassbare Borniertheit von Menschen, die die Tatsache ausblenden, dass es Familien gibt, in denen Kinder nicht einmal einen freien, nicht zugemüllten Platz haben, an dem sie ihre Hausaufgaben erledigen können, in denen es keine Ruhe gibt, die man braucht, um sich konzentrieren zu können, keinen geschützten Raum, ohne dass ständig jemand stört, außer vielleicht das Badezimmer; dass es Familien gibt, in denen Kinder sich ihre Mahlzeiten buchstäblich erkämpfen müssen, die von klein auf falsch ernährt sind, deren erwachsene "Vorbilder" schon morgens besoffen sind oder sich den ersten Schuss setzen, auf dem Sofa herumliegen, in die Glotze stieren, dass es Eltern gibt, die fluchen, prügeln und misshandeln, die ihre Kinder verspotten, beleidigen, demütigen, ihnen eine ärztliche Behandlung verweigern, weil ihnen das Geld für das in ihren Augen wertlose Kind zu schade ist; dass es Familien gibt, in denen Kinder jahrelang Gleichgültigkeit, Verachtung und Hass entgegenschlagen, in denen Kinder buchstäblich vom ersten Lebenstag an im Feindesland aufwachsen müssen, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr.

Auch das gehört für mich zum Thema Kindesmisshandlung: Wenn Kinder als Besitz, als Ware, als dressierte Affen, als Investition, als Verlängerung und Bestätigung des Eltern-Egos instrumentalisiert werden. Gute Noten werden beim Lehrer eingefordert, bestellt, notfalls eingeklagt. Lehrer lassen sich bestechen durch Elterngeschenke.  Wenn alle eine 1 plus bekommen, hat keiner eine 1 plus. Was ist daran so schwer zu begreifen? Wenn alle Kinder kleine Genies sind, ist kein Kind genial. Hohe Intelligenz ist nun einmal statistisch nicht breit verteilt. Weil Kinder heute seltener sind, nehmen die Eltern ihr Kind und vor allem auch sich selbst zu wichtig. Übersteigerte Aufmerksamkeit. Narzissmus. So werden am Fließband Duckmäuser, Feiglinge, Intriganten gezüchtet, die irgendwo auf dem Stadium eines pubertierenden Jugendlichen stehen geblieben sind, ohne jede Frustrationstoleranz, ohne jede Fähigkeit zum kritischen Hinterfragen – was besonders in der heutigen Medien- und Informationsflut unabdingbar wäre –, ohne Sozialkompetenz, d.h. nämlich Rücksicht nehmen und Zurückstecken können, das Wohl der Gruppe im Auge behalten, sich verantwortlich fühlen für eigene Fehler, aus Fehlern lernen können, bis hin zur Fähigkeit, nonverbale Signale von anderen Menschen, Mimik, Gestik, Tonfall, decodieren zu können. Dies sind simpelste Grundvoraussetzungen, ohne die eine Gesellschaft nicht lebensfähig ist.

Und auch das kommt vor: Hochbegabte einstampfen, zumindest dann, wenn sie das falsche Elternhaus haben. Denn was sich hierzulande "hochbegabt " nennen darf, bestimmt die Geldelite dieses Landes, und nicht irgendein dahergelaufener Normalbürger. "Verhaltensauffälligen" Erwachsenen darf man in der Regel keine "Anpassungs"-Medikamente zwangsverordnen, aber Kinder sind schutzlos, bei denen darf man das. Es ist einfacher, das Individuum zuzurichten als das krankmachende System.


Kriegstraumata und Schwarze Pädagogik


Was vor allem unreife und unreflektierte Eltern dazu bringt, die eigenen Kinder zu hassen, ist auch Neid und Missgunst. Dem Kind darf es nicht besser gehen als den Eltern selbst, die von ihren eigenen Eltern gedemütigt, misshandelt, vernachlässigt worden sind. Rite de passage. Man sehe sich nur die deutsche Kriegsgeneration an: Laut einem SPIEGEL-Bericht von 19.05.2008 gaben "rund 60 Prozent der über 75-Jährigen an, ein traumatisches Erlebnis während des Kriegs gehabt zu haben. In manchen Fällen waren das einschneidende Geschehnisse wie die Bombardierung Dresdens, oft aber auch ganz persönliche Erlebnisse von Soldaten oder Daheimgebliebenen, die Grausames zu sehen bekamen." Unverarbeitetes Leid macht blind gegenüber dem Leid der Gegenwart. Die Kriegsgeneration vergleicht das Leid der Kinder mit den eigenen unverarbeiteten Traumen und kommt natürlich zu dem Schluss: Euch geht's zu gut. Ihr müsstet mal erleben, was Krieg überhaupt ist. Ihr wisst das alles nicht zu schätzen. Euch soll es nicht besser gehen als mir. Erst in letzter Zeit ist man auf das Problem der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata aufmerksam geworden. Viele aus der Babyboomer-Generation werden aus eigener leidvoller Erfahrung bestätigen können, dass der Erziehungsstil in den 50er und 60er Jahren gekennzeichnet war durch emotionale Kälte, das Ignorieren seelischer Bedürfnisse, das Befolgen von starren Regeln mit einer Überbewertung von Ordnung und Sauberkeit.

Wer einen Einblick in die Leidensgeschichten erhalten möchte, sehe sich dazu den Kommentarbereich der Webseite "Die geprügelte Generation" von Ingrid Müller-Münch (Das gleichnamige Buch erschien 2012) an. Die Kriegsgeneration gab dieselbe Grausamkeit an ihre Kinder weiter, die ihre Eltern an ihnen praktizierten. Für die Kriegsgeneration waren diese Grausamkeiten "normal". Meine eigenen Eltern beispielsweise, beide Jahrgang 1932, im Nazi-Deutschland aufgewachsen, wurden schwer traumatisiert, der Vater durch die Vertreibung aus seiner Heimat Danzig und Flucht vor den einmarschierenden Russen, wobei zwei seiner Geschwister zu Tode gekommen sind, die Mutter durch die Bombardierung und den Feuersturm in Hamburg und ihrer anschließenden Evakuierung nach Süddeutschland, wo sie vom Rest ihrer Familie getrennt zur Schule gehen musste. Erst ein Jahr später folgte ihre Mutter mit den beiden anderen Geschwistern nach Süddeutschland nach. Die "Schwarze Pädagogik" dürften meine Eltern noch selber erlitten haben, ebenso wie deren Eltern. Sie dient den Erziehungspersonen als Rationalisierung ihres Sadismus und der Abwehr eigener Gefühle. Die gewalttätigen Praktiken der Schwarzen Pädagogik waren bekannterweise auch in den meisten staatlichen Fürsorge- und Kindererziehungsanstalten an der Tagesordnung, mit dem Ziel, die Kinder zu "brechen". Die Methoden reichten von Schlägen und folterähnlichen Strafmaßnahmen (Isolation) über die Kontrolle und Abrichtung des Kindes zur Ordnung und Sauberkeit und der Forderung nach unbedingten Gehorsam bis zur Verweigerung körperlicher Berührung. So lassen sich auch die schockierenden Ergebnisse des Milgram Experiments nachvollziehen, das in den  60er Jahren stattfand. Dazu heißt es im Blog "Kriegsursachen":
"Der Versuchsaufbau stellte – obwohl von den Experimentleitern wahrscheinlich gar nicht bewusst gewollt – die Kindheitserlebnisse vieler Menschen wieder her. Übermächtige Eltern bestraften ihre Kinder bei Vergehen oder aus Spaß. Bedingungsloser Gehorsam wurde von den Kindern verlangt, absolute Ohnmacht erlebt. (Man bedenke auch: Das Experiment wurde in den 60er Jahren durchgeführt. Die Kindheit der VersuchsteilnehmerInnen lag entsprechend in der Zeit der „schwarzen Pädagogik“.) Eigene Empfindungen, Sicht und Empathie wurden dadurch schon früh als etwas fremdes psychisch abgespalten. (...) Die alte Ohnmacht aus der Kindheit taucht unter den Bedingungen des Experimentes wieder auf. Ohnmächtig wird das getan, was die Autorität verlangt."


Mütter als Täterinnen


In den meisten Kulturen tragen Frauen immer noch die Hauptlast der Kindererziehung. Und so kann es eigentlich auch niemanden verwundern, wenn statistische Daten zur Täterschaft von Kindesmisshandlung die Mütter als die Hauptverantwortlichen ausweisen, so wie die im Blog "Kriegsursachen" zitierten Studien, aber auch die Umfrage auf der oben genannten Website"Die geprügelte Generation": "Haben Sie in Ihrer Jugend durch jemanden Gewalt erleiden müssen? Nein, oder ja durch ...." (Antworten zum Stichtag 29.10.2013: 72% Mütter, total votes 1.092, 65% Väter, total votes 984).  Falls dieses Ergebnis immer noch ein Tabu sein sollte, wird es höchste Zeit, es zu brechen.

Ein naheliegender Faktor dürfte wie oben angedeutet einfach der sein, dass Mütter wesentlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und damit auch mehr Gelegenheit zur Gewaltanwendung. Sehr häufig trifft man aber in gestörten Familien auch eine Rollenverteilung an: Die Mutter misshandelt verbal, also psychisch, der Vater erledigt dann das Grobe, die körperliche und/oder sexuelle Misshandlung.

Das Krankheitsbild der Psychopathie, insbesondere die Verantwortungs- und Gewissenlosigkeit verstört besonders bei Müttern, die ihre Kinder faktisch vernachlässigen und misshandeln, während sie nach außen ständig beteuern, sie zu lieben und alles für sie zu tun. Wenn man sie mit den seelischen, geistigen, psychosozialen, sichtbar körperlichen Folgen konfrontiert, bestreiten sie einfach alles.

In Deutschland werden Kinder von ihren Müttern regelmäßig umgebracht, als Neugeborene ausgesetzt, in Blumenkästen oder im Keller oder in der Gefriertruhe gelagert, sie werden oft jahrelang misshandelt. Die tötenden Mütter entsprechen dem psychologischen Verhaltensmuster der passiven Aggressivität, ein Erbe ihrer eigenen Mütter. Die Gewalt von Männern gegen Frauen, Ehemännern gegen Ehefrauen, Vätern gegen Mütter sucht sich ihr Ventil. Es sind Frauen, die im patriarchalen System zugerichtet wurden und ihre Wut in sich hineinfressen. Bis sie sich irgendwann entlädt, wie im Fall Karolina, Jessica, Anette, Lukas, und vielen anderen.
"In Deutschland fand die Ächtung von Gewalt in der Erziehung erst im Jahr 2000 ihren Platz im Bürgerlichen Gesetzbuch. Seither ist jede Form der körperlichen Züchtigung von Kindern verboten. (...) Heute, da die körperliche Züchtigung auf dem Rückzug ist, registriert die Lübecker Kinderärztin Thyen eine wachsende Zahl verwahrloster und ausgemergelter Kinder in ihrer Klinik. Die passive Aggression löse die aktive ab. Die Prügelorgie weiche mehr und mehr dem totalen Desinteresse. (...)  Der wirtschaftliche Niedergang des Landes hat Parallelgesellschaften der Ausgegrenzten und Chancenlosen entstehen lassen. Sie nehmen am öffentlichen Leben nicht mehr teil, sind auch für die staatlichen Hilfsangebote nicht mehr erreichbar. (...) »Komplizenschaft mit den Tätern« nennen Polizisten und Gerichtsmediziner das übermäßige Verständnis der Ärzte und Behörden für Eltern, die ihre Kinder malträtieren, und rufen auf zu »mehr Mut zum Wohle des Kindes«. Für sie geht der Schutz der Privatsphäre allein auf Kosten der Kleinsten." (DIE ZEIT, "Kindesmisshandlungen. Die feindlichen Eltern", Nr. 17, 21.04.2005)
Auffällig und alarmierend an der Berichterstattung über Kindstötungen ist, dass die Last und Verantwortung für Schwangerschaft und Geburt an den Frauen hängen bleibt, wie dieses Beispiel zeigt. Die Väter sind praktisch gar nicht vorhanden.

Narben im Gehirn


Die Neurologie hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Erkenntniszuwachs zu verzeichnen. Aus der Gedächtnisforschung weiß man, dass Demütigungen nie vergessen werden. Sie brennen sich buchstäblich ein, verändern langsam, aber sicher den Hirnstoffwechsel, führen auf Dauer zu Übersensibilität. Wie eine Wunde, die sich nie mehr richtig schließt, die immer wieder und immer öfter aufbricht.

Kinder, die Gewalt ausgesetzt waren, altern schneller:
"Die Telomere sind die Enden der Chromosome, sie schützen - vergleichbar den harten Enden von Schuhbändern - die DNA vor der Auflösung. Man weiß, dass diese Teile unseres Erbguts mit den Jahren kürzer werden. (...) Analysiert wurden DNA-Proben, die von den Kindern im Alter von fünf bzw. zehn Jahren genommen wurden. Es zeigte sich: Das Erbgut aller Kinder mit Gewalterfahrung wies verkürzte Telomere auf. Und nicht nur das, offenbar verstärkt sich die Wirkung: Je mehr Gewalt im Spiel ist, desto stärker war das Erbgut gealtert."
Gehirne sind bis zu einem gewissen Alter plastisch, Gehirne von Kindern, deren Gewalt angetan wird, bilden diese Erfahrung physisch ab, bilden regelrechte Narben - genetisch, hormonell, neurologisch in Form von funktionsgestörten oder zerstörten Hirnarealen.
"Ähnliche Ergebnisse haben britische und US-amerikanische Forscher jetzt für eine Gruppe von britischen Kindern im Fachmagazin Molecular Psychiatry präsentiert. Die Enden der Chromosomen in den kindlichen Körperzellen verkürzen sich schneller, wenn die Jungen und Mädchen Mobbing, Misshandlungen oder häusliche Gewalt erlitten. (...) Das Trauma war jeweils im Gehirn der Betroffenen ablesbar: Je mehr Gewalterfahrung oder Vernachlässigung die mittlerweile erwachsenen Probanden erlebt hatten, desto kleiner waren wichtige Gehirnstrukturen wie etwa der für das Lernen und für das Gedächtnis wichtige Hippocampus.Ähnliche Ergebnisse zeigten sich im Stirnlappen, der für die Regelung von Emotionen zuständig ist. Gleichzeitig stellten die Forscher um Udo Dannlowski fest, dass der so genannte Mandelkern „überaktiv“ war – also jener Teil des Gehirns, der Reaktionen wie Angst regelt.Diese Hyperaktivität hat aus Sicht des betroffenen Kindes durchaus einen Sinn, denn sie sorgt dafür, dass es potenzielle Gefahren besser wahrnehmen und sich vielleicht besser schützen kann. Ende vergangenen Jahres ergaben Studien von Forschern des University College London, dass Misshandlungen bei Kindern eine ähnliche Wirkung haben wie Kriegserlebnisse bei Soldaten. Auch diese schützen sich, indem ihr Gehirn permanent auf Alarmzustand schaltet." (Frankfurter Rundschau, "Misshandlung und Missbrauch. Gewalt hinterlässt tiefe Narben im Gehirn", 15.05.2012)
Nochmal zur Wiederholung: Misshandlungen bei Kindern haben in Bezug auf die Amygdala oder den Mandelkern eine ähnliche Wirkung wie Kriegserlebnisse bei Soldaten. Misshandelte Kinder leben unter Dauerstress, in ständiger Alarmbereitschaft, mit dauerhaft erhöhtem Cortisolspiegel, als Angst- und Abwehrreaktion. Dauerstress, psychischer Stress verkürzt die Lebenserwartung.

Nachdem uns die angelsächischen Länder bei Forschungen zur Gewalt an Kindern um Jahrzehnte voraus sind, reagiert nun endlich auch die deutsche Politik und legt ein Forschungsprogramm auf. Das wurde auch höchste Zeit.
"Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert diese interdisziplinäre Verbundstudie TRANS-GEN: Stressresilienz in der transgenerationalen Weitergabe von Missbrauchs-, Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen in der Kindheit mit insgesamt 2,4 Mio. Euro im BMBF-Forschungsnetz „Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt im Kindes- und Jugendalter“."
Man muss sich endlich einmal darüber im Klaren sein, dass der Körper, die Psyche Misshandlungen nicht vergisst. Sie bleiben lebenslang wirksam. Kinder mit Gewalterfahrung sind "emotional bewaffnet" - tickende Zeitbomben, "a loaded gun". Je grausamer die Taten, desto grausamer die eigene Kindheit. Zitat aus dem oben erwähnten Blog "Kriegsursachen":
"Die emotionale Bewaffnung, die in der Kindheit durch meist elterliche Gewalt beginnt und sich lebenslang auswirkt, ist das eigentliche Problem der Menschheit. Je mehr Gewalt als Kind erlebt wurde und je schwerer die Formen der Gewalt waren, desto emotional aufgerüsteter ist der einzelne Mensch (und so mancher, der voller Ohnmachts- und Gewalterfahrungen ist, wird ggf. auch gezielt nach realen Waffen und „Gründen“ zur Bekämpfung anderer Menschen suchen)."
Die einfachste und kosteneffektivste Methode, Kriege und zwischenmenschliche Gewalt zu verhindern oder zumindest drastisch einzudämmen, ist es, tatsächlich ernsthaft dafür zu sorgen, dass Kinder eine glückliche Kindheit erleben. Viel Zeit bleibt der Menschheit nämlich nicht mehr.

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